Der Liebe eine Stimme geben
mehr da sein würde, um zu sehen, wie sie vierundzwanzig, dreißig, achtunddreißig wurde.
Sie hat sich oft gefragt, ob sie mit Jimmy verheiratet wäre, wenn ihre Mutter nicht gestorben wäre. Nach der Beerdigung ihrer Mutter war es ihr fast unmöglich, morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Sie erinnert sich, dass sie sich völlig außer Stande fühlte, ihren Job zu erledigen, auch wenn er nur aus eher geistlosen Bürotätigkeiten bestand, wie zum Beispiel ans Telefon zu gehen, nach einem Fax zu sehen und Termine zu vereinbaren. Sie erinnert sich an so viele unprofessionelle Augenblicke, in denen sie versuchte, eine Flut von Tränen zurückzuhalten. Sie brauchte eine Auszeit. Sie biss sich von Woche zu Woche durch, bis zum Juni, dann hörte sie auf und verließ New York City. Sie hörte auf und ging nach Nantucket.
Sie hatte von ihrer Mutter ein bisschen Geld geerbt, genug, um sich den Sommer über mit drei Freundinnen ein Cottage zu mieten und im Herbst ein Aufbaustudium zu beginnen. Sie war für das MFA -Programm für Kreatives Schreiben an der Universität von Boston angenommen worden. Abgesehen davon hatte sie keine weiteren Pläne. Sie hatte nicht vor, Jimmy zu treffen und sich in ihn zu verlieben. Und sie hatte mit Sicherheit nicht vor, ihn zu heiraten und eine Familie zu gründen, anstatt wieder zur Uni zu gehen.
Aber genau das hatte sie getan. Am Labor Day, als ihre Freundinnen in ein Flugzeug stiegen und zurück in die wirkliche Welt flogen, blieb Beth zurück. Ein Jahr später heirateten sie und Jimmy, und noch ein Jahr darauf wurde Sophie geboren.
Sie hat sich oft gefragt, was ihre Mutter von Jimmy gehalten hätte. Vermutlich hätte sie ihn nicht gemocht. Und jetzt wäre sie mit Sicherheit nicht begeistert von ihm. Ihre Mutter hatte noch nie viel von Männern gehalten. Sie und Beths Vater ließen sich scheiden, als Beth drei war, und nachdem Beth vier geworden war, sahen sie ihn nie wieder. Sie kann sich nicht erinnern, dass ihre Mutter danach je wieder mit einem Mann ausging. Sie widmete sich ausschließlich der Aufgabe, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Tochter, ihr einziges Kind, großzuziehen.
Beth wühlt in der Box, sucht jetzt nach einem ganz bestimmten Bild. Sie weiß, dass es hier drinnen ist. Sie findet es ganz am Boden, unter allem anderen, das einzige Foto, das sie von ihrem Vater hat. Er trägt ein weißes Herrenunterhemd und eine schwarz umrandete Brille. Sein hellbraunes Haar lichtet sich. Er lächelt. Seine Arme sehen kräftig aus. Er hält Beth auf seinem Schoß. Ihr blondes Haar ist zu Zöpfen geflochten, und sie trägt ein rosa Partykleid. Es ist ihr zweiter Geburtstag. Sie lächelt ebenfalls. Sie sehen glücklich aus zusammen. Sie hat keine Erinnerung an diesen Mann oder an sich selbst als dieses kleine Mädchen, aber sie glaubt, dass sie es sind. Auf der Rückseite des Fotos, in der Handschrift ihrer Mutter, steht: Denny & Beth, 2. 10. 73. Sie seufzt tief auf und legt das Foto wieder auf den Boden der Kiste.
Sie drückt den Stapel mit den Geburtstagskarten ihrer Mutter an die Brust. Sie vermisst sie, vor allem jetzt. Sie lächelt und tupft sich ihre nassen Augen mit dem Ärmel ab, verloren in bittersüße Gedanken an ihre eigenen Töchter. Ihre Mutter hätte für Jimmy vielleicht nicht viel übriggehabt, aber ihre Enkelinnen hätte sie geliebt.
Beth legt die Karten zurück in die Box und entnimmt ihr ein Taschenbuch. Schreiben in Cafés von Natalie Goldberg. Das Buch, das sie überzeugt hat, sie könnte eines Tages Schriftstellerin sein. Warum ist dieses Buch hier drinnen und nicht auf ihrem Bücherregal im Wohnzimmer oder auf ihrem Nachttisch?
Als sie hierherzog, berichtete sie für Yesterday’s Island über Veranstaltungen, nichts Weltbewegendes, aber sie schrieb und wurde dafür bezahlt. Nachdem sie Jessica bekommen hatte, zog sie einen besseren Job als feste Journalistin für den Inquirer and Mirror an Land, aber nachdem sie Gracie bekommen hatte, wuchs es ihr über den Kopf, zu arbeiten und die Mädchen großzuziehen, daher hörte sie bei der Zeitung auf. Aber trotzdem nahm sie eine Zeit lang hin und wieder noch einen Stift in die Hand.
Sie findet ihre Essays, Gedichte und Kurzgeschichten. Sie findet ihre Notizbücher – gewöhnliche Spiralblöcke, biegsam und abgegriffen, jeder Zentimeter mit blauer Tinte vollgekritzelt –, Schreibübungen, Ideen für Kurzgeschichten, Charakterskizzen, ihre Fantasie, ihre Gedanken und Emotionen, ihr empfindsames,
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