Der Liebe eine Stimme geben
Sand.
»Sind Sie Rebecca?«
»Entschuldigung?«, fragt Olivia, nicht weil sie die Frage der Mutter nicht gehört hat, sondern weil sie sie nicht gleich verarbeiten kann, so ungewohnt ist es für sie, dass sich eine menschliche Stimme an diesem Strand an sie wendet, dass irgendjemand die graue Schicht durchdringt, die sich so fest um ihre Haut gelegt hat.
»Sind Sie die Fotografin?«, fragt die Mutter mit einem Nicken auf Olivias Kamera.
»Ich? Nein.«
»Entschuldigung. Ich dachte, das wären Sie.« Die Mutter sieht seufzend über die Schulter zurück zum Parkplatz, setzt sich ihr Kleinkind, das unbedingt herunterwill, höher auf die Hüfte. »Ich weiß nicht, wie lange ich alle drei sauber und trocken halten kann. Max! Nein!«
Max ist der mittlere Junge, Olivia schätzt ihn auf etwa fünf, und jetzt jagt er eine Möwe den Strand hinunter. Er ist schnell, hört nicht auf seine Mutter. Der Vater läuft ihm nach.
Der älteste Junge, etwa acht, kommt zu seiner Mutter geschlendert, nicht mehr interessiert an dem kalten Wasser, jetzt, wo er mit seinem Bruder nicht um die Wette rennen kann. Er stellt sich neben sie und nimmt ihre freie Hand.
Die drei Jungen erscheinen Olivia alle vertraut und fremd zugleich, zwei Seiten desselben Schwerts, jede gleichermaßen im Stande, sie in zwei Hälften zu zerschneiden. Sie haben dieselbe Größe und Statur wie Anthony – seine Füße, als er zwei war, seine Beine, als er fünf war, seine acht Jahre alten Hände.
Max, der Junge, der den Strand hinunterläuft, ohne auf die Rufe seine Eltern zu achten, ist genau wie Anthony. Und doch ist er völlig anders. Dieser Junge springt auf und stürmt davon, mit funkelnden Augen und einem verschlagenen Lächeln. Er spielt, und er bezieht seine Eltern in das Spiel mit ein. Fangt mich! Und er wird entzückt sein, wenn er gefangen wird.
Wenn Anthony am Strand rannte, dann rannte er, um die Wucht des harten Bodens zu spüren, der seine Gelenke zusammendrückte, den kalten Wind auf seiner Haut, den heißen, körnigen Sand zwischen seinen Zehen, um zum Wasser zu gelangen, das er mehr als alles andere liebte. Er rannte los und hörte nicht auf ihre oder Davids Rufe, aber es war nie ein Spiel, das sie beide in seine Welt mit einbezog.
Die Fotografin kommt, der Vater kehrt mit dem mittleren Jungen zurück, hat ihn sich unter den Arm geklemmt wie einen Fußball, und die Mutter scheucht sie alle zusammen und ermuntert die Jungen zu lächeln.
»Seht mich an«, sagt die Fotografin, und ein unerwarteter Schauder durchzuckt Olivias Mitte.
Sieh mich an.
Wie viele hunderte, tausende Male hat sie diese drei Worte gehört, ausgesprochen von ihr selbst, von David, von Ärzten, von einer Reihe Verhaltens- und Sprachtherapeuten.
Anthony, sieh mich an , während sie sich einen Pringle vor die Nase hielt.
Anthony, sieh mich an , während sie den Atem anhielt.
Anthony, sieh mich an , während er es nicht tat.
Das Kleinkind wirft den Kopf zurück und versteift seine Gliedmaßen, weint, das Gesicht verquollen und gerötet, die Augen fest zusammengekniffen. Die Mutter reicht es dem Vater. Sie zieht ein Spielzeug, noch in seiner Verpackung, aus ihrer Strandtasche und reicht es der Fotografin. Es ist ein Laster. Eine Bestechung. Sie ist schlau.
»Sieh den Laster an.«
Es klappt. Die Aufmerksamkeit des Kleinkinds wird auf den Laster gelenkt, den sich die Fotografin strategisch geschickt auf den Kopf gestellt hat. Das Kleinkind hört auf zu weinen, zeigt darauf und sagt: »Meiner.«
Bis zu diesem Augenblick hat sich Olivia gefragt, ob dieses Kleinkind auf dem Spektrum liegt. Sie ist bereits zu dem Schluss gekommen, dass die beiden anderen neurotypisch sind, aber bei dem Kleinkind auf der Hüfte seiner Mutter war sie sich nicht sicher. Nach Anthonys Diagnose hielt sie bei jedem Jungen, den sie sah – Vorschulkindern und Teenagern, Söhnen von Frauen, die sie kannte, und Söhnen von Fremden, Jungen, die in der Kirche vor ihr saßen, und Jungen, die auf dem Spielplatz spielten –, Ausschau nach Anzeichen von Autismus. Selbst jetzt kann sie einen Jungen nicht ansehen und einfach nur einen Jungen sehen. Sie muss auch Autismus sehen oder nicht sehen. Wie wenn sie die Buchstaben eines Wortes sieht und das ganze Wort liest, muss sie beides tun. Sie sind untrennbar miteinander verbunden.
Und während sie eine unausgesprochene Verbindung, eine mitfühlende Nähe, zu Müttern von Kindern auf dem Spektrum spürt, empfindet sie oft alle möglichen wenig
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