Der Liebe eine Stimme geben
eigenes Leben eher beobachtet als wirklich lebt. Diese Frau, die auf Nantucket lebt, Kaffee trinkt, ihre Tagebücher liest, spazieren geht und Fotos schießt – es ist, als würde sie sich einen Film ansehen, einen langweiligen Film über eine langweilige Frau, wo nicht viel passiert, einen Film, bei dem sie gern aus- oder auf einen anderen Sender umschalten würde, aber aus einem unerfindlichen Grund klebt sie am Bildschirm. Wenn sie ihn sich weiter ansieht, wird irgendetwas passieren.
In einer Hinsicht muss bald etwas passieren. Sie muss hier einen Job finden. Selbst bei ihrem bescheidenen Bedarf hat sie doch tägliche Lebenshaltungskosten. David hat sich bereiterklärt, ihr die ersten sechs Monate zu bezahlen, was heißt, dass sie nicht mehr viel länger von seiner Unterstützung leben kann. Sie muss entweder hier ihren Lebensunterhalt verdienen, oder sie muss das Haus verkaufen und umziehen, vermutlich zurück nach Georgia, um in der Nähe ihrer Mutter und ihrer Schwester Maria und deren Familie zu sein. Oder vielleicht wird sie das Haus verkaufen und an einen noch entlegeneren Ort flüchten, irgendeine Insel im Südpazifik, wo sie einfach verschwinden kann.
Sie hat darüber nachgedacht, darüber, wirklich zu verschwinden. Mehrere Selbstmorde auf Nantucket wurden in der Zeitung gemeldet, seit sie hierhergezogen ist. Therapeuten und Psychologen äußerten ihre Meinung dazu, warum Selbstmorde auf Nantucket häufiger sind als anderswo, und sie verwiesen auf Depressionen und jahreszeitlich bedingte Störungen im Zusammenhang mit dem extrem strengen Winter auf diesem abgeschiedenen Fleckchen Erde. Sie hat sich ihren eigenen Namen in der Zeitung vorgestellt, im Mittelpunkt eines ähnlichen Artikels. Sie versteht es. Eine fast unerträgliche Leere breitet sich jeden Morgen vor ihr aus. Und dann kommen die Fragen.
Warum?
Warum war Anthony hier?
Was war der Sinn seines kurzen Lebens?
Keine Antwort.
Warum bin ich hier?
Warum?
Keine Antwort. Es kommen nie irgendwelche Antworten, nicht in ihren Gebeten oder Träumen, zumindest bis jetzt nicht; nicht in ihren Tagebüchern oder in dem Glauben, den sie früher an Gott und die Kirche hatte, nicht in dem Zauber eines Sonnenuntergangs am Fat Ladies Beach. Ein Teil von ihr hat sich damit abgefunden, dass es auf ihre Fragen nie Antworten geben wird, dass dieses Leben keinen Sinn hat, aber ein anderer Teil von ihr sucht weiter, stellt diese Fragen immer und immer wieder, eindringlich und unaufhörlich, viele Male jeden einzelnen Tag.
Wie jemand mit Autismus .
Die Stille, die auf das letzte Warum? des Tages folgt, liegt jedes Mal in der Luft, hallt einen langen Moment nach, bevor sie ins unendliche Nichts davonschwebt und sie so völlig und schmerzlich allein zurücklässt, dass sie oft wünscht, sie könnte sich hier und jetzt auflösen und zusammen mit ihrer Frage im Nichts verschwinden. Aber etwas tief in ihr beharrt darauf, dass sie durchhalten soll, aushalten soll. Beobachten und warten. Und einen Job finden, und zwar bald. Aber einen Job als was? Was kann sie hier tun?
Warum bin ich hier?
Warum?
Sie geht in die Hocke, schaut durch den Sucher, passt die Kameraeinstellung an und schießt ein Foto von der Küste, dem weißen Schaum, dem nassen, metallischen Sand, den Schichten von flüssigem Blau. Als sie den Blick hebt, sieht sie den glatten, schwarzen Kopf eines Seehunds in der Brandung. Sie zoomt heran und knipst. Noch immer im Zoom, kann sie die runden, schwarzen Augen des Seehunds deutlich erkennen, und er scheint sie genau anzusehen. Sie lässt die Kamera sinken, und sie starren sich einen langen Moment an. Dann taucht der Seehund unter die Wasseroberfläche, verschwindet und lässt sie allein zurück.
Hinter ihr am Strand werden ein paar Stimmen laut. Sie dreht sich zu ihnen um. Zwei Jungen laufen lachend aufs Meer zu, auf sie zu. Ihre Mutter, beladen mit einer schweren Strandtasche über der Schulter und einem Kleinkind auf der Hüfte, außer Stande, ihnen nachzulaufen, ruft ihnen hinterher, warnt sie davor, ins Wasser zu gehen. Der Vater geht zuerst noch neben ihr her, dann rennt er los. Sie sind alle barfuß und tragen alle dieselben hellblauen Hemden und Khakihosen.
Der Vater schnappt sich die beiden älteren Jungen, rafft sie hoch, einen auf jeden Arm, kurz bevor ihre Zehen die Brandung erreichen. Die Jungen kreischen vor Vergnügen. Der Vater wirbelt sie im Kreis, bis ihnen schwindelig wird, lässt sich auf den Boden fallen, und sie toben alle drei im
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