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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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fördern. Und ich war seine Dealerin, habe ihm jeden Tag fröhlich seine Lieblingsdroge verabreicht.
    Carlin hat gesagt, wir könnten einen kalten Entzug machen, wenn wir wollten. Wir könnten einfach alle Barney-DVDs wegwerfen, aufhören, es aufzuzeichnen, alle vorhandenen Folgen löschen, Anthonys Decke und all seine Barney-Spielzeuge wegwerfen. Damit wäre die Sache beendet. Oder sie könnte mit der ABA-Therapie mit ihm daran arbeiten, um es ihm abzugewöhnen. Das erschien mir menschlicher. Der Methadonklinik-Ansatz für die Barney-Entziehungskur.
    Aber gestern, als er hysterisch vor dem schwarzen Fernsehbildschirm saß, als Carlin ihm den Zugriff auf die Fernbedienung verweigerte, hatte ich eine andere Idee. Wir haben diese Sache mit Barney »Beharrlichkeit«, eine »Besessenheit« und eine »Sucht« genannt. Was, wenn wir es stattdessen »Liebe« nennen?
    Wenn ich zusehe, wie Anthony sich Barney ansieht, ist er völlig verzückt. Freude tänzelt jedes Mal über sein wunderschönes Gesicht, wenn sich das kleine lila Stofftier in den riesigen, lebendigen Barney verwandelt. Er kreischt, eia-eia-eia, und fuchtelt mit den Händen.
    Das ist zu gut!
    Kürzlich hat er die Rückspultaste auf der Fernbedienung entdeckt, und er hat herausgefunden, wie man dieselben dreißig Sekunden immer und immer wieder abspielen kann. Er lacht jedes Mal ein tiefes, dröhnendes Lachen und fuchtelt mit den Händen.
    Ich liebe das so sehr!
    Anthony LIEBT Barney. Wie können wir ihm etwas wegnehmen, das er liebt? Wollen wir ihn nicht zur Liebe ermuntern? Warum sollten wir Liebe löschen?
    Ich wünschte, er würde etwas anderes als Barney lieben. Wirklich, ich wünschte es. Aber warum sollten wir darüber bestimmen dürfen, was er liebt? Ich liebe Bücher und den Strand und Kochen. David liebt Football und Hockey. Was, wenn irgendjemand entscheiden würde, dass ich zu viel Zeit am Strand und mit Lesen und Kochen verbringe, und darauf besteht, dass ich diese Dinge, die ich liebe, aufgebe? Was, wenn jemand mich »umlenkt« und darauf besteht, dass ich stattdessen Hockey liebe? Anstatt zu lesen und zum Strand zu fahren und zu kochen, müsste ich mir Hockey ansehen und die Regeln lernen und es spielen. Ich hasse Hockey. Ich wäre erbärmlich. Ich wäre nicht ich.
    Ich weiß, dass es Anthony in mancher Hinsicht vermutlich helfen würde, das Händefuchteln und Barney loszuwerden. Er würde normaler erscheinen. Es wäre leichter für ihn, am schulischen Alltag teilzunehmen, mit anderen Kindern seines Alters zu interagieren (es gibt keinen neurotypischen Sechsjährigen auf diesem Planeten, der Barney liebt).
    Aber genau darum geht es. Anthony ist nicht normal. Da. Ich habe es aufgeschrieben, und die Welt ist nicht untergegangen. Ich bin nicht gestorben, und er auch nicht. Er ist nicht normal. Er hat Autismus, und sein Autismus ist der Grund, weshalb er mit den Händen fuchtelt, anstatt zu sagen: »Dieses Geräusch, das dir gar nicht bewusst ist, macht mich verrückt« oder »Ich liebe Barney so sehr!«
    Daher will ich Anthonys Händefuchteln oder seine Liebe zu Barney nicht löschen, aber ich habe Angst davor, es David zu sagen. Er wird mir nicht recht geben. Er wird sagen, dass es heißt, Anthony aufzugeben. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich dasselbe gesagt. Aber jetzt sehe ich es nicht mehr so. Jetzt sehe ich es so, wir können Anthonys Händefuchteln sehen und ein anormales Verhalten sehen, das gelöscht werden muss, oder wir können sehen, wie unser Sohn tapfer kommuniziert, was er will und fühlt – auf die einzige Art, auf die er es kann. Wir können zusehen, wie Anthony Barney immer und immer wieder zurückspult, und es eine Besessenheit nennen, die behandelt werden muss, oder wir können es Liebe nennen.
    David wird sagen: Wenn wir diese autistischen Verhaltensweisen nicht abstellen, dann wird er nie normal sein. Er wird immer anders sein.
    Und meine Antwort darauf wird sein: Ja. Er wird immer anders sein.
    Und die Welt wird nicht untergehen, und ich werde nicht sterben. Und Anthony wird im Wohnzimmer sein und Barney lieben.

NEUNUNDZWANZIG
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    Inzwischen ist es November, und die Insel lichtet sich noch immer, wird ihr Fett los, während mit jeder Woche weniger Wochenend- und Tagesausflügler kommen. Olivia kann lange Spaziergänge am Strand oder durch die Straßen ihrer eigenen Nachbarschaft unternehmen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Die Geschäfte in der Innenstadt haben noch immer geöffnet, aber nur, weil die Händler

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