Der Liebe eine Stimme geben
dort alle noch für den Weihnachtsmarkt ausharren, eine letzte Riesenchance, um den Touristen die Dollars aus der Tasche zu ziehen, bevor der Winter offiziell einsetzt. Sie weiß, nach dem Dezember werden die meisten Einzelhändler ihr Geschäft für mindestens drei Monate schließen. Bis sich die Handelskammer irgendeine Art organisierte Ausrede einfallen lässt, um die Leute auch im Winter anzulocken – das Nantucket-Eisskulpturen-Festival im Januar, die Nantucket-Winterolympiade im Februar, das Nantucket-Kaffeefestival im März –, wird vor dem Frühjahr niemand wiederkommen. Nantucket ist ein schrulliger und saisonaler Insel-Spielplatz, kein Winterziel, und mit Sicherheit kein Ort, an dem irgendein vernünftiger Mensch freiwillig das ganze Jahr über leben würde.
Olivias berufliches Leben ist ebenfalls im Begriff, für die Saison zu schließen. Sie hat noch eine Porträtsitzung zu bearbeiten und danach keine Arbeit mehr. Ihre Tage werden ereignislos und langsam, einfach und entspannt, und jetzt begrüßt sie die Veränderung.
Es ist spätnachmittags, und sie ist auf dem Weg zu ihrem Briefkasten, weil sie vergessen hat, heute Morgen zu gehen, vor dem Frühstück und nachdem sie in einem ihrer Tagebücher gelesen hat, wie es ihre Gewohnheit ist. In diesen letzten vielen Monaten ihre Tagebücher in aller Ruhe immer wieder zu lesen hat ihr Zeit und Raum gegeben, um mit mitfühlenden Augen und einem liebevollen Herzen noch einmal durchzugehen, was passiert ist, um herauszufinden, was sie damals noch nicht wusste, was sie nicht wissen konnte, da alles noch zu frisch, zu unmittelbar war. Damals steckte sie zu tief in den Emotionen und den Schwierigkeiten des Alltags, um sie zu sehen, geschweige denn zu verstehen. Aber jetzt tut sie es.
Sie sieht ihr Leugnen und dann die ängstliche Wut, die an die Stelle des Leugnens trat. Sie sieht ihre Verzweiflung, und auch Davids, und die gähnende Kluft, die sich zwischen ihnen auftat. Aber was sie jetzt vor allem sieht, mit einer absoluten Klarheit, die noch Stunden und Tage, nachdem sie ihr Tagebuch geschlossen hat, in ihr bleibt, ist Anthony. Nicht das Leugnen von Anthonys Autismus oder die Wut wegen seines Autismus oder die Verzweiflung über seinen Autismus. Nicht einmal Anthony und seinen Autismus. Einfach nur Anthony.
Sie seufzt, während sie wünscht, sie hätte damals gewusst, was sie jetzt versteht.
Sie geht allein in der Mitte der Straße über lange Schatten, lauscht auf die Geräusche der Möwen, auf Windspiele in der Ferne, den Rhythmus ihrer Schritte, unter denen der Sand auf dem Asphalt knirscht. Die Luft ist feucht und salzig und kalt. Das Gehen tut ihr gut. Es belebt ihr Gehirn, überzeugt verängstigte und vergrabene Gedanken, dass es jetzt sicher ist, aus dem Versteck zu kommen, lädt unvollendete Gedanken ein, ihre gezackten Ränder zu zeigen, begrüßt die schlendernden und die schwachen. Wenn sie geht, reihen sich ihre Gedanken in ihrem Verstand auf wie weiße Steine, sodass sie deutlich gesehen und gehegt werden können. Heute denkt sie, während sie geht, an ihre Schwester und ihre Mutter.
Maria will, dass sie über Thanksgiving nach Hause nach Georgia kommt. Es wäre schön, sie zu sehen. Olivia vermisst ihre ältere Schwester. Aber der ganze Aufwand – zu packen, die Insel mit der Fähre oder dem Flugzeug zu verlassen, mindestens einmal umsteigen zu müssen, in Marias Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen –, all das erscheint ihr unglaublich mühsam.
Und trotz ihrer starken und zunehmenden Schuldgefühle, weil sie Marias Kinder seit einer Ewigkeit nicht gesehen hat, ist Olivia noch immer nicht bereit, Zeit mit ihnen zu verbringen, mit ihrer hübschen Nichte und ihrem hübschen Neffen, Anthonys Cousine und Cousin, die jetzt älter sind, aufblühend, voller Fähigkeiten. Lebendig. Und es liegt nicht nur an den Kindern. Es liegt an Marias ganzem Leben. Maria hatte es schon immer besser, leichter, ohne dass sie sich dafür anstrengen musste. Sie hatte die besseren Noten, die cooleren Freunde. Sie ging auf ein angeseheneres College, zog einen besser bezahlten Job an Land. Sie ist größer. Und jetzt ist sie glücklich verheiratet und hat zwei gesunde Kinder. Olivia weiß, dass dieser Vergleich nicht fair oder produktiv ist, aber wenn sie über Thanksgiving zu Maria fährt, dann ist er unvermeidlich.
Und sie ist eindeutig nicht bereit, sich mit ihrer Mutter auseinanderzusetzen, die Maria zufolge noch immer jeden Tag zur Kirche geht, von Kopf bis
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