Der Liebespaar-Mörder - auf der Spur eines Serienkillers
Angeklagte Reichenstein, ich habe ihn sofort auf den Bildern in der Zeitung wiedererkannt.«
Jeder im Gerichtssaal hörte Dorothea Scholz gebannt zu. Denn sie berichtete über eine Episode im Leben Reichensteins, die wie seinerzeit auf den Landkarten als weiße Flecke erschienen waren: unerforschtes Gebiet, Neuland. Man wusste kaum etwas darüber, was Reichenstein in dieser Zeit getrieben hatte. Und die Aussage der Zeugin korrespondierte mit einem furchtbaren Verdacht, der in diesem Verfahren bisher ausgeklammert worden war.
Rückblende: Februar 1957.
Der Sonderkommission »Liebespaar-Morde« war der Durchbruch gelungen: Fritz Büning hatte »gesungen«, und bei der Durchsuchung der Wohnung Reichenstein waren unter anderem Uhren und Schmuck mit »ostzonalem Charakter« gefunden worden. Allerdings konnten die Sachen »keiner konkreten Straftat zugeordnet werden«.
Die ersten Vermutungen der Kripo schienen sich zu bestätigen, als die Zeugin Adele Prock am 2. Februar im Präsidium erklärte: »Ich bin eine ehemalige Bekannte der Reichensteins, ich war mit der Mutter von Erwin gut bekannt. Ich habe von den Uhren und dem Schmuck gelesen. Da ist mir eingefallen, dass Erwin in den Jahren 1946/47 häufiger in Düsseldorf aufgetaucht ist und seiner Mutter Wäsche und Schmuck unbekannter Herkunft zum Verkauf dagelassen hatte.«
Die Ermittler fanden schnell heraus, dass Reichenstein sich mehrere Jahre in Haldensleben, einer Kleinstadt nahe Magdeburg, aufgehalten hatte. Auch in den Jahren 1946/47, als die Zonengrenze, die Ost und West zerriss, einen neuen Verbrechertypus generierte – Diebe, Betrüger und Räuber, die sich ausschließlich an Grenzgängern schadlos hielten. Ahnungslose Menschen, aus Not, Verzweiflung und Sorge um ihre Angehörigen zum Hin- und Herpendeln zwischen West- und Ostdeutschland gezwungen, waren Opfer dunkler Existenzen geworden, die auch vor Gewaltverbrechen nicht zurückschreckten. Mindestens zweiundachtzig Morde waren während dieser Zeit im »Niemandsland« verübt worden, nur einen kleinen Bruchteil hatten die Ermittlungsbehörden aufklären können.
Auch Büning gegenüber hatte Reichenstein häufiger über sein Treiben an der Zonengrenze schwadroniert, wenn auch meist nur andeutungsweise. Büning hatte der Kripo davon in Vernehmungen erzählt. So sollte Reichenstein auch einen Tag nach dem Mord an Dr. Stürmann gesagt haben: »Du hättest damals in der Ostzone dabei sein müssen. Da bin ich erst richtig zum Mann geworden. Ich habe aus der Zeit noch so viel Beute, dass ich in Saus und Braus davon leben könnte. Aber diese Sachen sind alle noch zu frisch. Ich arbeite heute nur, um den Schein zu wahren.«
Wie anders als durch Verbrechen sollte der damals berufs- und arbeitslose 17-Jährige an den Schmuck und die Uhren gekommen sein? Hatte er sich das Vertrauen von Grenzgängern erschlichen, sie in einen Hinterhalt gelockt, dort getötet und beraubt? Die Kripo hielt dies »für möglich«. Die im Fall Dr. Stürmann demonstrierte Kaltblütigkeit, ließ nach Einschätzung der Ermittler vermuten, dass Reichenstein »nicht zum ersten Mal getötet hatte«. War Reichenstein einer der »Grenzmörder«?
Der Verdächtige behauptete jedoch: »Ich habe den Schmuck als Dank von den Grenzgängern erhalten.« Aber die Ermittler stellten fest, dass die Preziosen für eine solche Dankesgabe »viel zu wertvoll« waren.
Wasser auf die Mühlen der Ermittler war die Aussage eines Malermeisters aus Hannover, der sich am 5. Februar bei der Kripo meldete. August Gester wollte auf einem Pressefoto jenen Mann erkannt haben, mit dem er Jahre zuvor eine »unheimliche Begegnung« gehabt haben wollte. An der Zonengrenze bei Helmstedt, im Sommer 1946. Der 47-Jährige erzählte: »Ich schlich wegen eines Tauschgeschäfts durch das Tannendickicht der Bunkerlinie zur nahen Zonengrenze. Plötzlich sah ich nur ein paar Meter vor mir einen jungen Mann mit einer Pistole in der Hand, der sich über einen am Boden liegenden Erschossenen beugte und diesen ausplünderte. Als ich auf einen Ast trat, drehte sich der Mann noch kurz um, bevor er flüchtete. Ich konnte ihn genau sehen.«
Gester hatte diesen Mord damals auch der Grenzpolizei in Helmstedt angezeigt und glaubte nun, endlich den Namen des Täters zu kennen: Erwin Reichenstein. »Es besteht nicht der geringste Zweifel. Das ist der Mann, den ich damals beobachtet habe«, sagte er der Kripo. Die Ermittler verfügten nun über »handfestes Beweismaterial«. Das einzige
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