Der Liebespaar-Mörder - auf der Spur eines Serienkillers
angerufen, mehrmals. Morgens, mittags, abends. Seine Nummer war mir von der Telefonauskunft mitgeteilt worden. Doch niemand hatte abgehoben. Merkwürdig.
Es tröpfelte nur noch. Ich schaute auf die Uhr, obwohl dazu gar kein Anlass bestand. Die Anspannung war spürbar, durchdrang jeden Muskel, jede Faser meines Körpers. Ich kannte den Mann nur aus den Akten, aus älteren Zeitungsberichten, von Fotos, aus Erzählungen. Der älteste Artikel datierte vom 16. Juni 1956. Knapp siebenundvierzig Jahre waren seitdem vergangen, ein halbes Menschenleben. Was jetzt passieren würde, war mir vollkommen unklar. Alles war möglich. Und nichts.
Auf der Klingelleiste des Hauses standen in Blockschrift drei Namen geschrieben. Wenn die Reihenfolge stimmte, musste er in Parterre wohnen. Ich schellte. Wenig später noch mal. Nichts. Die Haustür hatte kein Fenster. Was drinnen vor sich ging, blieb mir verborgen. Zu hören war auch nichts. Ich drückte abermals auf den weißen Klingelknopf, diesmal länger. Keine Reaktion. Ich ging um das Haus herum und schaute links zum Fenster hinauf. Dort musste er wohnen. Der Raum war dunkel, niemand zu sehen.
Ich ging zurück und schellte bei den übrigen Hausbewohnern. Sekunden später wurde aufgedrückt. Erwartet wurde ich von einer schätzungsweise vierzig bis fünfundvierzig Jahre alten Frau, die auf dem oberen Ende des Treppenaufgangs stand, der sich links neben der Eingangstür befand. Es war die Eigentümerin des Hauses. Ich stellte mich vor und fragte nach ihm. Ja, er wohne dort, wurde mir gesagt. Die Frau zeigte auf die Tür, vor der ich stand. Ein Namensschild fehlte. Aber ob er jetzt da sei, wisse sie nicht. Ich bedankte mich, die Frau verschwand in ihrer Wohnung.
Das letzte Hindernis? Die Holztür hatte in der Mitte eine etwa einen Meter hohe und 50 Zentimeter breite Verglasung, die allerdings größtenteils mit einem dunkelbraunen Stoff verhängt worden war. Der Klingelknopf befand sich links neben der Tür, in Schulterhöhe.
Ich schellte. Einmal. Zweimal. Niemand öffnete. Ich horchte. Nichts rührte sich. Schließlich klopfte ich. Erst zaghaft, dann energisch. Plötzlich wurde in der Wohnung Licht gemacht, wie durch den äußeren Rand der Türverglasung zu erkennen war. Schritte. Ein Schlüssel wurde im Türschloss herumgedreht, die Tür etwa einen halben Meter weit aufgezogen. Ich erkannte ihn trotz seiner fünfundsiebzig Jahre sofort: Es war Erwin Reichenstein. Er schaute mich fragend an. »Harbort ist mein Name, ich hatte Ihnen geschrieben …«
»Ach, Sie sind das …« Der Mann winkte mich hinein. Ich war erleichtert. Es hätte auch ganz anders kommen können.
»Sie müssen entschuldigen, ich habe geschlafen«, erklärte er mir. In der Wohnung roch es muffig, es war kalt. Er führte mich in die Küche. Benutztes Geschirr stapelte sich auf der Spülablage. Auf Ordnung und Sauberkeit schien der Mann kaum Wert zu legen. »Setzen Sie sich doch.« Reichenstein schob mir einen Stuhl hin. »Möchten Sie etwas trinken?« Ich lehnte dankend ab. Dann saßen wir uns am Küchentisch schräg gegenüber. Ich musterte ihn: weiß-graues, dünnes, etwas zerzaustes Haar, ausgeprägte Geheimratsecken, Brille, auffallend schmale Lippen, rote Wangen, blau-weiß kariertes Hemd, das sich über einem Bauchansatz dezent wölbte, knochige ungepflegte Hände, gürtellose braune Cordhose, schwarze Pantoffeln.
Zunächst erklärte ich ihm, dass er sich zu nichts verpflichtet fühlen müsse, mein Anliegen privater Natur sei, er auch keinerlei Fragen zu beantworten brauche. Er versuchte zu lächeln. Aber seine Gesichtszüge wirkten wie eingefroren. Der Mann mit der steinernen Maske. Ich erinnerte mich sofort an die Schlagzeile in einer Düsseldorfer Tageszeitung, als über den »Jahrhundertprozeß« geschrieben worden war. Jetzt wusste und spürte ich unmittelbar, was der Autor damals hatte ausdrücken wollen – jene unverhohlene Unnahbarkeit, diese kalte Aura der Unantastbarkeit. Ich saß nur einen Meter von diesem Mann entfernt, doch trennten uns Welten. Und die Wahrheit. Es gab keinerlei Berührungspunkte oder Gemeinsamkeiten. Hier der wissbegierige Kommissar, dort ein verurteilter Mörder, der vierunddreißig Jahre seines verpfuschten Lebens eingesperrt worden war. In seinen hellwachen, sehr genau beobachtenden Augen, die mich unablässig anstarrten, war ich ein Eindringling, vielleicht sogar eine Bedrohung. Er sagte es nicht, aber seine Körpersprache schien ihn zu entlarven. Reichenstein
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