Der Liebespaar-Mörder - auf der Spur eines Serienkillers
stürzten die Pressefotografen auf die Anklagebank zu, nachdem der Vorsitzende die Sitzung geschlossen hatte. Während Büning diese Prozedur klaglos über sich ergehen ließ, verbarg Reichenstein sein Gesicht hinter einem Taschentuch, als die Blitzlichter aufflammten.
»Der erregendste Strafprozeß dieses Jahrhunderts«, wie ihn die Illustrierte Stern einmal genannt hatte, war zu Ende gegangen – »Ein Kriminalreißer, der Stoff für fünf Kriminalromane liefern könnte« (Die Welt). Die Menge im Saal stand noch lange zusammen und viele Frauen und Männer starrten gedankenverloren auf die Tür, hinter der Reichenstein und Büning längst verschwunden waren. Das erhoffte Spektakel hatte nicht stattgefunden. Denn das sphinxhafte Wesen des vermeintlich »außergewöhnlichsten und intelligentesten Mörders der deutschen Kriminalgeschichte« hatte nicht ausgeleuchtet, hatte nicht erhellt werden können. Erwin Reichenstein hatte sich einfach verweigert. Und nicht zuletzt auch deshalb sollte er lebendig begraben werden. Doch die wohl dringendste Frage war immer noch nicht beantwortet worden: Wer war der »Liebespaar-Mörder«?
IV. Oktober 2003
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In Heft Nummer 49/1957 der Illustrierten Stern wagte Henry Kolarz in seiner fünfteiligen Reportage Der Liebespaar-Mörder von Düsseldorf eine bemerkenswerte Prognose: »Sein bisheriges Verhalten deutet darauf hin, daß Reichenstein bis zur letzten Instanz um seine Freiheit kämpfen will. Voraussichtlich wird er leugnen, solange dies für ihn überhaupt noch einen Sinn hat, vielleicht wird er auch nach seiner Verurteilung ein Wiederaufnahmeverfahren beantragen. Und wenn nach Jahren auch dies keine noch so geringe Aussicht auf Erfolg mehr verspricht – dann wird Erwin Reichenstein sprechen.
Denn eine der Schwächen dieses eiskalten Menschenhassers ist die Eitelkeit, das Verlangen danach, sich mit seiner vermeintlichen Macht über die Gesellschaft zu brüsten, so wie er es häufig bei dem ihm ergebenen Büning getan hatte.
Vielleicht erst dann werden wir einen Blick in die Seele dieses vermutlich außergewöhnlichsten und intelligentesten Mörders der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte werfen können.«
Doch Henry Kolarz hatte sich – wie viele andere auch – geirrt. Erwin Reichenstein war stumm geblieben.
Donnerstag, 23. Oktober 2003, 16.37 Uhr.
Der Kilometerzähler meines Wagens zeigte die Zahl vierhundertneunundzwanzig an. Ich fuhr langsam an der Häuserreihe vorbei, bis ich das Schild mit der Nummer dreiundvierzig ausmachen konnte. Ich notierte die Ankunftszeit. In dem verwitterten Mehrfamilienhaus an der Peripherie einer norddeutschen Kleinstadt wohnte der Mann, den ich besuchen, mit dem ich sprechen wollte. Nach der viereinhalbstündigen Fahrt wollte ich mir zunächst ein wenig die Beine vertreten. Ich stieg aus und ging ein Stück die Straße entlang. Eine junge Frau kam mir auf einem Fahrrad entgegen. Als ich ihr auf dem schmalen Bürgersteig Platz machte, würdigte sie mich keines Blickes, schaute einfach an mir vorbei. Dann bemerkte ich, dass ich beobachtet wurde, aus der Parterrewohnung in Haus Nummer achtundfünfzig. Ein älterer Herr mit schlohweißem, schütterem Haar, schmalem Gesicht und Hornbrille fixierte mich. Der Mann stützte seine dünnen Unterarme auf ein dunkelbraunes Kissen, das auf dem Fenstersims lag. Sein durchdringender Blick war durchsetzt von Neugier und Argwohn. Ich war für ihn ein Fremder. Was der Mann dachte, wusste ich nicht. Ich glaubte aber, es zu wissen. Als uns nur noch wenige Meter trennten, wurde das Fenster abrupt geschlossen, die Gardine zugezogen. Der ältere Herr und ich, wir hätten uns unterhalten können. Ich hätte ihm sogar einige Fragen stellen wollen – über denjenigen, den ich besuchen würde, der etwa so alt sein mochte wie der Mann im Fenster. Aber ein Gespräch fand nicht statt. Nicht einmal der Versuch. Plötzlich begann es zu regnen. Ein heftiger Regenschauer zwang mich zurück in mein Auto. Zeit zum Nachdenken.
Die dicken Regentropfen trommelten auf die Windschutzscheibe. Ich fühlte mich unsicher, unwohl. Überdies quälte mich diese nicht enden wollende Ungewissheit. Zwei Monate zuvor hatte ich ihm einen Brief geschickt, ihm darin erklärt, wer ich sei und warum ich den Kontakt suchte. Die Anfrage war unbeantwortet geblieben, genauso wie mein zweites Schreiben. Die Briefe waren von der Post nicht zurückgeschickt worden, er musste sie also bekommen (und gelesen?) haben. Schließlich hatte ich ihn
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