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Der Liebespakt

Titel: Der Liebespakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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Sogar der russische Präsident war mit Jahrgang 1965 einige Jahre nach Aleksej zur Welt gekommen. Da war klar: Er war einfach nicht gut genug gewesen.

    Traurig stierte Aleksej Wolkow in die grüne Tannenwand hinein und nippte an seinem lauwarmen Wolkenwasser aus der Thermoskanne. Er schaute an sich herunter; der Bademantel des »Waldschlösschen« war zerknittert, denn er hatte darin geschlafen. Ich bin eine traurige Figur, dachte Aleksej Wolkow. Kurz überlegte er, ob er sich aus dem Fenster stürzen sollte. Aber dann schätzte er die Höhe ab. Drei Meter, nicht mehr, unten würde er auf weichen, gepflegten Parkrasen fallen. Statt des sicheren Todes erwarteten ihn bloß komplizierte Knochenbrüche. Das war den Versuch nicht wert. Aber wenn er sich schon nicht umbrachte, dann konnte er auch frühstücken gehen. Aleksej Wolkow beschloss, dass es sich nicht lohnte, sich für das Frühstück umzuziehen. Er würde im Bademantel hinuntergehen.
    Über das alte, breite Treppenhaus gelangte er zur Lobby. Der Weg war von großen Vasen gesäumt, gefüllt mit frischen Blumensträußen. Eine sonderbare indische Musik begleitete ihn nach unten, sie war fremd und irritierend. In der Lobby angekommen, war Aleksej Wolkow schon so geschafft, dass er am liebsten in einem der sandfarbenen Sessel versunken wäre. Seit vier Tagen fastete er jetzt, dieser Zustand machte ihn zusätzlich kraftlos. »Halten Sie durch! Denn Sie werden erleben, wie plötzlich ein Schleier vor Ihren Augen weggerissen wird und Sie wieder die Schönheit des Lebens erkennen können«, hatte der indische Arzt gestern noch zu ihm gesagt. Also schleppte er sich weiter bis zum Restaurantbereich, um zumindest einen Tee zu trinken. Kaum saß er an seinem Platz, kam auch schon die Kellnerin mit seinem Fastentee. Er roch ganz deutlich die vielen verschiedenen Gewürze - Zimt, Kardamon, Fenchel und Ingwer. Bei seiner Großmutter in Sibirien hatte es im Sommer ähnlich intensiv gerochen. Aleksej Wolkow atmete tief den dampfenden Tee ein. Doch eine empörte Stimme unterbrach seinen Genuss.

    »Das ist doch kein Kaffee.« Aleksej Wolkow sah auf und erblickte eine gepflegte Frau mit elegant blondiertem Haar, das hinten zu einem damenhaften Knoten verschlungen war. Mein Alter, schätzte Aleksej Wolkow. Die Frau hatte ein schmales, längliches Tütchen in der Hand.
    »Ayurvedischer Kaffee …«, belehrte sie die junge Kellnerin, »… ist eine speziell abgestimmte Kräuter- und Gewürzmischung, die eine ähnlich erfrischende Wirkung am Morgen entfaltet wie Koffein.«
    »Hören Sie, meine Liebe, ich bin jetzt 53 Jahre alt, habe davon 37 Jahre gearbeitet und trinke seitdem jeden Morgen meinen Kaffee. Diese Gewohnheit werde ich auch heute Morgen nicht ändern.«
    Die beiden Frauen funkelten sich kampflustig und überhaupt nicht ayurvedisch an. Wer würde sich durchsetzen? Aleksej Wolkow betrachtete die Szene interessiert. Die Kaffeefrau gefiel ihm. Wann hatte er zuletzt eine Frau gehört, die so offensiv ihr Alter nannte? »Ich bin 53 Jahre alt.« Von den Frauen, die er in Moskau kannte, nannte keine mehr ihr Alter, sobald sie den dreißigsten Geburtstag hinter sich gelassen hatte. Sie taten dann so, als seien sie, ausgerechnet sie und nur sie, vom Altern ausgenommen. Die Alterslosigkeit kostete die Frauen viel Geld bei Schönheitschirurgen, und inzwischen ahnte Wolkow auch, wie schmerzhaft diese Operationen waren. Aber diese Frau war anders. »Aleksej«, hatte seine Großmutter immer zu ihm gesagt, »ich bin jetzt 55 Jahre alt und habe mein Leben lang hart gearbeitet. Einer Frau wie mir steht ein warmer Samowar zu.« Nein, seine Großmutter hätte sich auch nicht den Schwarztee verbieten lassen. Jetzt erkannte Aleksej Wolkow auch, was die unbekannte Frau in ihrer Hand hielt: Es war eine Einmal-Portion Nescafé. Er musste schmunzeln, und das war ihm schon seit Jahrzehnten nicht mehr passiert.

    »Gut, ich bringe Ihnen ein Kännchen heißes Wasser. Aber hängen Sie das bitte nicht an die große Glocke«, sagte die Kellnerin etwas verschnupft.
    »Keine Sorge, in meinem Beruf bin ich Diskretion gewohnt.« Vergnügt rührte sie wenig später den löslichen Kaffee ins heiße Wasser des Kännchens. Dann goss sie sich genüsslich eine Tasse ein. Sie atmete die Kaffeedämpfe tief ein und trank mit geschlossenen Augen den ersten Schluck. Sie freute sich schon auf die Ölmassage um zehn Uhr.
    »Darf ich vielleicht auch kurz an Ihrem Kaffee riechen? Ich will Ihnen nichts von dem wertvollen

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