Der Liebespakt
der Arzt erstaunt gefragt. Nicht irgendein Regenwasser. Das Regenwasser, das dort auf der Insel auf die Planen tropfe, stamme direkt vom Südpol. Deshalb sei es so klar, rein und erfrischend wie kein anderes Wasser auf der Welt. In Moskau, hatte Aleksej Wolkow noch hinterhergeschoben, trinke man in Geschäftskreisen nichts anderes. »Und unsere Frauen trinken ›Bling-Bling‹. Wegen der funkelnden Swarovski-Steine.«
Jetzt bekam er täglich morgens sein Südpol-Regenwasser serviert. Allerdings lauwarm. »Lauwarmes Wasser reinigt am Morgen den Körper. Damit beginnen wir den ayurvedischen Tag.« Das Cloud Juice wurde in eine hässliche Chromthermoskanne umgefüllt und vor sein Zimmer gestellt. Lauwarm schmeckte das teure Wasser scheußlich. Die arktische Kälte, die einem nach dem ersten Schluck innerlich für Sekunden ein fast schmerzhaftes kristallklares Gefühl schenkte, war weg.
Wahrscheinlich würde er diesen ganzen Hokuspokus nicht mitmachen, wenn der Arzt seinen Seelenzustand nicht so unglaublich genau hätte beschreiben können. Nach der Untersuchung hatte er ihn lange nur betrachtet. So lange, dass es Wolkow unbehaglich wurde. Dann plötzlich hatte der Arzt mit seiner Diagnose begonnen.
»Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber ich denke, Ihnen ist Folgendes passiert: Als Erstes kamen die Ängste. Sie wurden panikartig von ihnen überfallen, im Büro, in der Limousine, nachts im Bett. Dazu zunehmend Schlafstörungen. Später wurden Sie aufbrausend, waren ungeheuer schnell reizbar. Alles machte Sie wütend. Und jetzt ist alles anders. Kein Zorn mehr, noch nicht mal Ängste. Sie sind einfach nur müde. Mehr noch: Sie sind lethargisch. Habe ich recht?«
Es war, als könne der Arzt von seiner Zunge lesen wie von einem Fahrtenschreiber. Alles an dieser Diagnose war richtig. Die verdammte Schwermut hatte ihn in Berlin überfallen. Vorher hatte er noch gewütet, gekämpft. Natürlich, er ahnte schon länger, wie abgeschrieben er war. Daheim in Moskau war er inzwischen zu den Gamma-Tierchen herabgesunken. Die Alpha-Männchen und ihre Beta-Nachzügler nahmen kaum mehr Notiz von ihm. Trotzdem hatte er sich noch lange vormachen können, er sei eine ganz große Nummer. Bis er in Berlin eintraf. Diese Stadt war Provinz. Es gab dort weder Arm noch Reich. Keinerlei Exklusivität. Jeder durfte überall hingehen - Hotels, Restaurants, Clubs, alle gut gefüllt mit Habenichtsen. Als regiere dort noch der Sozialismus. Für Aleksej, selbst im Kommunismus aufgewachsen, war das abstoßend. Diese verrückten Berliner hatten sogar ihren schönsten Flughafen geschlossen, den Flughafen Tempelhof. Warum? Weil der angeblich nur für VIPs gewesen sei. Aleksej Wolkow konnte darüber nur den Kopf schütteln, er verstand die Deutschen nicht,
warum die sich so eine verkommene Hauptstadt leisteten. Kein Wunder, dass alle großen Geschäfte in London abgeschlossen wurden. Dort hatte der Adel über Jahrhunderte exklusive Orte geschaffen, in die auch das große Geld nur schwer drang. Oder in Schanghai. In Peking. Tokio. Aber niemals in Berlin. Nichts wirtschaftlich Wichtiges passierte dort. Deshalb schickte sein Moskauer Boss nur drittklassige Leute nach Berlin. Manager wie ihn, Aleksej Wolkow. Das war ihm klar geworden, als er in diesem verrückten Arbeitszimmer mit dem mächtigen Hirschen am Schreibtisch gesessen hatte. Dort hatte er sich der Wahrheit gestellt.
Die Klimax seiner Karriere lag hinter ihm, es war Zeit, sich nichts mehr vorzumachen. Er hatte in den 90ern hervorragend verdient, er war inzwischen Millionär. Aber mehr war nicht mehr drin. Er würde nie zu den ganz Großen gehören. Lange hatte er sich eingeredet, dafür sei er zu spät geboren. Die Moskauer Oligarchen waren meist älter als er - Männer, die schon in der Sowjetunion korrupte Geschäfte gemacht hatten. Schon Ende der 80er-Jahre hatte man ihre schwarzen Mercedes- und BMW-Limousinen auf Moskaus Straßen sehen können. Diese Männer stammten aus Sibirien, Armenien, Georgien: Viele von ihnen hatten in Zeiten der Auflösung der Sowjetrepubliken schamlos die Rohstoffquellen an sich gerissen. Bei diesem Poker hatte ich keine Chance, hatte sich Aleksej Wolkow immer wieder beruhigt. Ich war noch zu jung, noch nicht lange genug dabei. Aber dann war eine neue Generation zu Geld gekommen. Männer, die viel jünger waren als er selbst. Voran Roman A., Jahrgang 1966, einer der reichsten Männer der Welt. Oder Andrej M., der ehemalige Spitzensportler, Jahrgang 1972.
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