Der Liebespakt
Getränk abnehmen. Nur einmal riechen, das wäre wunderbar.« So verrückt der Wunsch auch war, das weiche russische Timbre des Mannes klang angenehm. Frau Schurz schaute hoch und sah, dass neben ihrem Tisch Aleksej Wolkow im Bademantel stand. Alle anderen Gäste waren zum Frühstück angezogen, aber offensichtlich hatte Herr Wolkow diesen Schritt nicht für nötig gehalten. Trotzdem, als sie in sein Gesicht schaute, merkte Frau Schurz zum wiederholten Male, dass sie diesen Wolkow mochte. Er hatte ihr leidgetan, als er sich stundenlang in Georg Jungbluths Zimmer ganz oben im Konzern verschanzt hatte. Der Mann war offensichtlich verzweifelt. Frau Schurz hatte schon viele verzweifelte Topmanager in ihrem Leben gesehen, aber noch nie einen, der sich seiner Verzweiflung so offen hingab. Die Manager, die sie sonst erlebte, strampelten dann nur umso heftiger. Sie waren wie Brummkreisel, die überdrehten - sie drückten zwanzigmal in der Stunde die Sprechanlage zum Sekretariat und brüllten irgendwelche sinnlosen Befehle, nur um noch zu spüren, dass sie überhaupt existierten. Aleksej Wolkow war anders gewesen.
»Setzen Sie sich. Ich gebe Ihnen gerne eine Tasse ab. Es ist schließlich ein Kännchen. Außerdem«, sie grinste verschmitzt, »habe ich noch eine zweite Portion dabei.«
Aleksej Wolkow zog eine unbenutzte Tasse zu sich heran, und Frau Schurz goss ihm Kaffee ein. Beide tranken genießerisch einen Schluck. »Mhmm«, machte Aleksej Wolkow - und während er das tat, versuchte er sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal so eine naive Äußerung getan hatte. »Mhmm.« So machten Kinder, nicht Männer in seiner Position. Es tat gut, »Mhmm« zu murmeln.
»Erkennen Sie mich wieder? Wir sind uns schon mal begegnet«, sagte Frau Schurz vorsichtig. Aleksej Wolkow schaute sie irritiert an. »In Berlin«, half sie nach.
»Berlin«, murmelte er nur müde, »Berlin ist eine schlimme Stadt.«
»Manchmal schon«, bestätigte Frau Schurz. Die beiden tranken einen weiteren Schluck Kaffee.
Aleksej Wolkow schaute Frau Schurz genau an. Wie gepflegt diese Frau ist, dachte er. Und dabei vollkommen ungeschminkt. Aber man spürte, sie war voller Disziplin. Und doch herzlich. War sie Mutter? Vermutlich ja. Aleksej Wolkow fühlte sich zu ihr hingezogen, und es war ein ganz anderes Gefühl, als er zuletzt bei seinen jungen Freundinnen gehabt hatte. Es war nicht anstrengend. Aber trotzdem nicht leidenschaftslos. Unglaublich, dachte Aleksej Wolkow bei sich, es ist noch nicht mal zehn Uhr, und ich spüre so etwas wie Leidenschaft. Vor einer halben Stunde hatte seine Kraft kaum dazu gereicht, es bis in den Frühstückssaal zu schaffen.
Frau Schurz schaute auf die Uhr und stand auf. »Es tut mir leid, Herr Wolkow, ich muss jetzt leider gehen - in zehn Minuten beginnt meine Samvahana-Massage.«
Aleksej Wolkow wollte irgendetwas tun, um sie zu halten. Oder zumindest eine Aussicht auf ein Wiedersehen zu haben. »Darf ich Sie heute Nachmittag auf einen Cocktail an der Bar einladen?«, fragte er.
»Einen Cocktail?« Frau Schurz schaute erstaunt. »Soweit ich weiß, wird in diesem Hotel kein Alkohol ausgeschenkt. Ich glaube also kaum, dass es eine Bar gibt.«
»Doch - eine Bar für ayurvedische Cocktails. Grüne Cocktails, Fruchtsaft-Cocktails, Lassi-Cocktails, Cocktails mit Muskatnuss oder Ingwer.« Aleksej Wolkow pries die verloren wirkende Bar im hinteren Teil der Lobby, als handele es sich um einen Hot Spot in Moskau.
Frau Schurz lächelte. Sie holte ihren ayurvedischen Stundenplan aus der Tasche ihres roten Jacketts. »Um fünf Uhr hätte ich Zeit«, sagte sie.
Aleksej Wolkow strahlte sie einfach nur an.
Sie nickte ihm zum Abschied zu. »Ich freue mich schon«, sagte sie.
Strahlen, dachte Aleksej Wolkow. Wann habe ich zuletzt gestrahlt?
Das Ehepaar Jungbluth hatte jedes Detail der Szene in sich aufgesogen. Vorgestern waren sie zu dritt angekommen und hatten sich alle im Lauf des Tages dem höflichen, aber sehr peniblen indischen Arzt vorstellen müssen, der sie untersuchte. Drei Doshas gebe es, so erklärte er, Wind, Wasser, Feuer. Seien die im Ungleichgewicht, werde der Mensch krank. Toni, so seine Diagnose, fehle es an Wind, Frau Schurz an Feuer. Und Georg? Der habe zu viel davon. Zu viel Wind, zu viel Feuer. »Sie brennen lichterloh«, sagte der Arzt. Der Puls viel zu hoch, die Augen gerötet, der Schlaf schlecht. »Zeit, zu löschen.« Alle drei bekamen einen speziellen Essens- und Massageplan verordnet, plus viel
Weitere Kostenlose Bücher