Der Liebespakt
ein ganz normaler Arbeitstag, an dem sie gekündigt hatte, um ihre Ehe zu retten. Aber ihr Ehemann würde die nächsten sieben Tage nicht auftauchen. Also was tun? Zerstreut schaute sich Toni um und entdeckte auf dem Esstisch einen Stapel gebundener Ausgaben der »Gartenlaube«, mit denen sie sich auf das Fest vorbereitet hatte. Die Putzfrau musste sie dort abgestellt haben.
Toni zog einen zweiten Stuhl heran, um ihre Beine daraufzulegen, und nahm die oberste »Gartenlaube« vom Stapel. Es
war der Jahrgang 1891, ein schwerer Band, eingeschlagen in grün-schwarz marmorierte Pappe. Toni blätterte von hinten nach vorne - ganz hinten stand die Werbung. Angepriesen wurde »Wolff’s Conservenbüchsen, die einzig praktischen Einlegeglaeser für Hausfrauen« und »Neger-Doppelgarn - das beste baumwollene Strickgarn Diamantschwarz«, es warb die »Champagner-Kellerei Grempler & Co, Grünberg in Schlesien«. Die Anzeige für den »Bulldog-Taschen-Revolver« stand neben der Werbung für »M. Melachrion & Co Cairo. Beste egyptische Cigaretten«. Die Schrift war verschnörkelt und umständlich, genauso wie die Erklärungen für die Produkte. »Polichs Backfisch-Seide, die einzige Seide, welche ihres bescheidenen Ausdrucks halber von jungen Mädchen getragen werden kann.« Toni konnte kaum glauben, wie umständlich alles damals gewesen war - alle Kleider hatten Hunderte von Häkchen, Schleifen, Bändern, Rüschen, Volants. Es war genauso wie mit den Häusern, den Heilanstalten, den Schulen, den Fabriken dieser Zeit; alle waren mit Ornamenten geschmückt, mit Stuck, mit überflüssigen kleinen Details ausgestattet. Es kam ihr kindlich vor, so ganz und gar vergangen.
Dann blätterte sie nach vorne. Ein Liebesroman, geschrieben von einer Autorin mit dem schwerblütigen Vornamen Wilhelmine. Einmal im Leben sollte man einen romantischen Gartenlaube-Roman gelesen haben, dachte sie amüsiert. Zumal, wenn man so ein Fest veranstaltet hat. Sie las die ersten Sätze mit derselben amüsierten Herablassung, mit der man heute einen Stummfilm anschaut und sich über die übertriebenen Gesten und die überzogene Mimik lustig macht. Doch schon nach wenigen Seiten stutzte sie. Der Roman mit dem Titel »Eine unbedeutende Frau« begann sie zu interessieren.
Es war kein Roman über verliebte Backfische, jungfräuliche Försterstöchter oder eine schöne, verarmte Landadelswitwe, die
zum ersten Mal die Liebe erleben. Die mit geröteten Wangen und schwer atmend in seinen Armen liegen - vollständig bekleidet, versteht sich. Nein, dies war ein Roman über eine scheiternde Ehe. Ein verheirateter Bildhauer plante seine Scheidung, obwohl er gut vom Geld und Erbe seiner Frau lebte. Warum? Weil seine junge Gattin ihn zu Tode langweilte. Er hatte etwas anderes von seiner Ehe erwartet.
»Meine Frau ist seichtes Wasser. Ich verkenne ihre guten Eigenschaften durchaus nicht - Kochen und Haushalten, Freund, das versteht sie meisterhaft. Doch ein angeregtes Gespräch ist mit ihr schier nicht möglich. Was ich suche, ist eine dieser temperamentvollen, kapriziösen Frauen. Heiter, witzig und mitunter ein klein wenig boshaft. Eine, die überall und nirgends zu Hause ist, etwa Paris, London, Petersburg« , schrieb er einem Freund in einem Brief.
Neugierig geworden, las Toni weiter. Nun tauchte seine Frau auf, Antje, eine zurückhaltende, aber kluge Frau. Das war vom ersten Moment an klar. Warum erkannte ihr Mann das nicht? Weil er seine Frau kaum beachtete. Er ließ sie links liegen, demütigte sie, ohne wirklich boshaft zu sein. Er behandelte sie wie ein Möbelstück, und wenn er sie anlächelte, so war es ohne Gefühl. Der Mund verzog sich freundlich, doch die Augen blieben tot. Arme Antje. Natürlich war die Welt voller kapriziöser Frauen, ein klein wenig boshaft, und so dauerte es nicht lange, da hatte der Ehemann eine Affäre. Antje bekam alles mit. Sie litt still.
»Sie nickte mit dem Kopfe wie ein schöner Automat.«
Toni las den Satz immer wieder. »Ein schöner Automat.« Genauso hatte sie sich gefühlt, als sie dort draußen auf dem Polospielfeld neben Georgs Geliebter gestanden hatte und mit ihr anstieß. Leblos und gespenstisch. Wie auf Autopilot gestellt. Wie ein schöner Automat.
Toni legte den Roman bis tief in die Nacht nicht mehr weg. Irgendwann, ganz am Ende, nach vielen Folgen Fortsetzungsroman, nach schwerem Schicksal - Krankheit, Tod und Flucht - erkannte der Ehemann endlich, was für eine wunderbare, kluge und sensible Frau er in Antje
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