Der Liebespakt
Bild der Leipziger Schule und den unglaublichen Flachbildfernseher in ihrer Dachgeschosswohnung abgesehen hatten. Und es war auch nicht der neueste Schrei auf dem Markt der Ehetherapien namens Anti-Divorce-Bondage, bei der sich die zerstrittenen Ehepartner aneinanderfesselten, sich danach anbrüllten, bis sie sich ausgebrüllt hatten, sich anschwiegen, um dann endlich wie zivilisierte Menschen miteinander zu reden. Nein, nichts dergleichen. Es war das Werk einiger Konzernmitarbeiter, wobei insbesondere ein Angestellter aus der Poststelle immer wieder eingriff und verfügte, die Bänder noch straffer zu ziehen. Schließlich durfte das Paar keinen Wettbewerbsvorteil haben, zukünftiger Vorstandsvorsitzender hin oder her. Heute war das große Betriebsosterfest in der Konzernzentrale. Und das Eierlaufen der Paare war wie jedes Jahr der unumstrittene Höhepunkt.
Toni schätzte die Entfernung bis zur Startlinie ab. Allein gemeinsam dorthin zu gelangen, würde dauern - es waren bestimmt fünfzig, wenn nicht gar achtzig Meter. Fiel eigentlich irgendjemandem auf, dass Georg und sie sich partout nicht ansahen? Er schaute verbissen in eine andere Richtung, tat so, als
würde ihn der kleine bebrillte Kerl, der gerade mit dem Synthetikband an seinem Knöchel herumnestelte, irgendwie interessieren. Tat er aber nicht die Bohne. Georg war wütend. Wütend, dass er gemeinsam mit Toni auf dieses Osterfest musste. Wütend, dass Peter von Randow bei dem jährlichen Eierlaufen gekniffen hatte - denn eigentlich musste der Vorstandsvorsitzende mit seiner Frau an den Start gehen. So war die Tradition. Aber Randow hatte sich dieses Jahr ans Mikro gestellt und gesagt: »Liebe Kollegen, ihr alle wisst, meine Frau und ich haben uns nie gedrückt, wenn es um den beliebten Eierlauf ging. Aber in wenigen Wochen findet an der Konzernspitze ein Machtwechsel statt. Wer mein Nachfolger wird? Noch darf ich keinen Namen nennen. Doch wir wissen ja, was heute am meisten zählt: Jugendlichkeit. Also schlage ich vor, dass beim diesjährigen Rennen statt mir und meiner Frau die drei jüngsten Vorstandsmitglieder und ihre Partnerinnen teilnehmen. Ich denke, das macht die Sache besonders spannend.« So kam es, dass Georg und Toni genauso überraschend an den Start mussten wie Tom und Karoline und Herbert und Sophie Rosenstätter. Herbert Rosenstätter hatte eine Zeit lang als Kronprinz von Randow gegolten; bis er die Übernahme eines japanischen Unternehmens verpatzt hatte. Der Platz im Vorstand war ihm geblieben, aber der Weg nach ganz oben war für immer versperrt. Die Rosenstätters waren etwas älter als Georg und Toni, vermutlich um die vierzig.
In Georg brodelte es, und das lag nicht nur am Eierlauf.
Heute Morgen hatte er endlich beim Notar gemeinsam mit Toni eine Schweigevereinbarung unterschrieben. Eigentlich sollte jetzt alles gut sein. Sie würde kein Wort über seine Affäre verlieren, die glückliche Ehefrau an seiner Seite spielen und ihre Amokläufe der letzten Tage einstellen. So stand es im Vertrag, das garantierte sie mit ihrer Unterschrift.
Allerdings war der Preis, den er dafür zahlen musste, hoch.
Viel zu hoch, fand Georg. Er musste Toni nach seiner Wahl 500 000 Euro auf ein separates Konto überweisen. Das war ab dann allein ihr Geld. Völlig unabhängig von allem, was sie sonst noch an Gewinn aus der Ehe mitnahm. Eine halbe Million! Ellen, Tonis Juristenfreundin, hatte knallhart verhandelt. Und Toni konnte seitdem ihr Grinsen kaum unterdrücken. Grinsen? Nein, sie strahlte. Sie strahlte und verhöhnte ihn, Georg, damit. Genau das machte ihn unendlich wütend. Sie stempelte ihn zum Verlierer.
»Los, Blutsaugerin, wir müssen zum Start. Schlepp jetzt deinen falschen Schwangerschaftsbauch da rüber, du geldgierige Schlampe«, zischte ihr Georg böse ins Ohr.
»Wie du möchtest, Liebling«, säuselte Toni zuckersüß. Er war jetzt ihr Chef.
Und so versuchten sie, Körper an Körper gebunden, den ersten gemeinsamen Schritt über das Gras. Doch wer sich an frühere Kindergeburtstage erinnert, als man sich an Mitschüler gebunden über die bettlakengroßen Gartenwiesen vorstädtischer Reihenhäuser mühte, der weiß: Koordination war beim Eierlauf alles. Wollte der eine nicht so wie der andere, dann war der Sturz vorprogrammiert. Das vollkommen unharmonische Ehepaar Jungbluth stolperte also Richtung Startlinie, was nicht allzu stark auffiel, weil auch die anderen Paare große Schwierigkeiten hatten, sich auf ein Marschtempo zu einigen.
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