Der Liebessalat
ich« machte Viktors Goldmann oder Goldmanns Viktor wieder lebendig, und er meldete stolz die Wiederkehr der erneut ragenden Lust. »Ich laß dich jetzt«, sagte sie aber, und er begriff sofort die Taktik der erfahrenen Frau, einen Mann mit seiner Restlust oder seinem Lustrest zurückzulassen. Das bindet mehr als alle Versprechen und vor allem mehr als Heim und Herd und Kinderschar – und womit sonst die Männer am Verschwinden gehindert werden sollen.
Beim Beenden des Telefonats hatte Viktor den Fortgang des Rilke-Textes überflogen und bestand darauf, den Schluß der Pagen-Passage vorzulesen. »Er fragt nicht: ‘Dein Gemahl?’ Sie fragt nicht: ‘Dein Namen?’ Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.«
»D’accord, bonne nuit, à bientôt, mon cher Monsieur Goldmann«, sagte die Tscherkessin, müde jetzt, und legte auf.
Die Session war Viktor gut bekommen. Er fühlte sich befreit und erfrischt, wie nach einem Ritt durch den Kaukasus, oder, da er noch nie auf einem Pferd gesessen war, wie nach einem Bad in einem kaukasischen Bergsee, falls es dort Seen gab. Vielleicht auch wie nach einem gelungenen, unverschämten Raubzug, der etwas eingebracht hatte, ohne irgendwem zu schaden. Er federte unruhig hin und her, wach und tatendurstig. Die Frage war, ob er sich jetzt zu Ellen ins Bett legen und versuchen sollte, sie zu verführen. Danach war ihm zumute. Und wenn er Ellen morgen früh erzählen würde, daß ihm nachts um halb zwei danach zumute gewesen war, würde sie sagen: »Warum hast du es nicht versucht, du Pfeife!« Wenn er es jetzt aber versuchen würde, würde sie sich sehr wundern. Kein Ehemann der Welt weckt nachts um halb zwei seine Frau, die bis halb zwölf Schriftsätze diktiert hat. In den ersten einszweidrei Ehejahren vielleicht, da war das noch ein hübscher Lustbeweis, danach aber nur noch lästig oder verdächtig. Das roch nach Reue und Untaten. Das konnte nur schiefgehen. Viktor faßte einen Vorsatz: Er würde morgen den ganzen Tag ein unauffällig netter Ehemann sein, so daß sich beim Zubettgehen die fällige Ehevögelei ganz von allein entwickeln würde, ohne daß es zu der niederschmetternden Frage kam: »Was ist mit dir los?«
Er hätte jetzt gern laut Musik gemacht, um seiner guten Laune Ausdruck zu geben. Vor Ewigkeiten, noch zu Motorradzeiten, war er einmal mit Erstfrau Ella Richtung London geprescht. Mit zweihundert Stundenkilometern nachts über diese phantastisch beleuchteten Autobahnen Belgiens. Diese wunderbar rücksichtslose Energievergeudung. Dieses ekelhafte Energiesparen heute, dieses vernünftige langsame Fahren, dieses idiotische Nichtrauchen – das alles war so elend ungeil. In Brüssel hatten sie damals mitten in der warmen Nacht, mitten in der Stadt Halt gemacht und eine Zigarette geraucht. Aus dem obersten Stockwerk eines schönen alten Hauses dröhnte ein Song aus den weit offenen, erleuchteten Fenstern. Erstklassige Musik. Ella und er tanzten ein paar Schritte auf der Straße. Von oben schaute ein schwarzer Mann herunter und lachte. »C’est ne pas une chanson française!« hatte Ella hochgerufen. Der Schwarze hatte ein einladendes Zeichen gemacht. Sie sollten hochkommen. Sie waren das schönste Treppenhaus hochgegangen, das sie je gesehen, auf den flachsten Stufen, die sie je betreten hatten. Oben war die Wohnungstür offen gestanden. Überall dieser Song. Keiner im Haus schien sich daran zu stören. Es war nach drei. Der Schwarze hatte eine Party gegeben, nun waren die Gäste weg, und er wollte nicht aufhören. Der schwarze Gastgeber war Dirigent und kam aus dem Kongo. Auguste. Der Song, den er unablässig abspielte, hieß
Compared To What
und war 1969 in Montreux aufgenommen worden, eine schnelle, funkig-soulig groovende Hardbopnummer. Eddie Harris schön schrill am Saxophon, Les McCann am Piano bellte den Text: »Compared to what«– unvergleichlich beschissen das Leben, aber ein besseres gibt es nicht. Rabiates Aufbegehren gegen Amerika: verdammte Nation, verdammtes Profitdenken, verdammter Präsident, verdammter Krieg, verdammte Amikinder, die Frösche umbringen, und verdammte alte Amiweiber, die ihre Hunde küssen – eine kapitalistische Klapsmühle. »It is a goddamn nation«. Das machte Laune. Sie hatten den fast zehnminütigen Song mehrmals gehört und den Text zu verstehen versucht. Sie hatten ein bißchen gekifft. »Come on«, hatte Auguste irgendwann gesagt mit seiner schönen
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