Der Liebessalat
hatte, stach ihn der Hafer, und er fügte seinen Zeilen an Ira die Bitte hinzu, ihn doch endlich einmal in Zürich zu besuchen, hier gäbe es Hotels, die ihr mit Sicherheit behagten.
Um halb zwölf war er vollkommen mit sich im Reinen. Er liebte alle Frauen, jede auf seine Art, und er hatte das Gefühl, der ehrlichste Mensch zu sein. So etwas wie Ehebruch gab es in seinem Leben nicht. Nur die Erfinder der ehelichen Treue konnten sich so ein Proletenwort wie Ehebruch einfallen lassen. Damit sollten die Ehebrecher als die großen Verletzer angeprangert werden. An den Bruchstellen ihres Verbrechens verletzten sich arme Unschuldige, so die Legende. In seinem Liebesleben tat Viktor alles, um Verletzungen zu vermeiden, und dazu mußte von Anfang an klargestellt werden, daß er von Treue nichts hielt – genau genommen von dem Glauben an die Treue. Der Glaube war das Teuflische. Gegen die Treue selbst war so wenig einzuwenden wie gegen Gott oder das Vaterland. Das Perfide war der Glaube. Wer dumm und feige genug war, an Gott und die Nation und die Treue zu glauben, der mußte natürlich irgendwann verletzt werden – und er hatte nichts anderes verdient. Viktor wollte niemanden verletzen – außer vielleicht die religiösen Gefühle irgendwelcher hirnrissiger gläubiger Christen, Juden oder Muselmanen, die verletzte er ganz gern. Aber er hatte keinen Umgang mit religiösen Menschen. Auch die Juden und Orientalen, die er kannte, waren nicht religiös. Keiner seiner Freunde war noch in irgendeiner christlichen Kirche. Bestenfalls in ihrer blinden Kulturgläubigkeit waren sie noch verletzbar. Wenn man behauptete, Goethe sei kein großer Dichter gewesen, sondern ein pfiffiger Schlaumeier, der ein paar wenige gute Gedichte und die wirklich herzzerreißenden
Leiden des jungen Werther
geschrieben habe, sonst aber nur quälend langweilige Romane und Theaterstücke, deren schlimmstes der
Faust
sei, dann zuckten manche noch zusammen.
Nachhilfestunden
Viktor war jetzt für das historische Telefongespräch mit der Tscherkessin bereit, die Lust allerdings war vergangen, die Aufregung groß. Er dachte an seinen ersten Bordellbesuch als Sechzehnjähriger. Zwei Mal und nie wieder. Wie groß war die Lust vorher gewesen und wie rapide war sie geschrumpft, je mehr er sich dem Bordell genähert hatte. Die Aufregung war der Erektion hinderlich gewesen. Und jetzt, Jahrzehnte später, wenige Minuten vor dem ersten geplanten Telefonsex seines Lebens, war es ihm unvorstellbar, daß die Stimme der Tscherkessin noch vor wenigen Stunden seinen Viktor wirklich hart gemacht haben sollte, und er glaubte nicht, daß eine Wiederholung möglich wäre.
»Laß auch mich dein Joker sein«, hatte er an Ira geschrieben. Die Formulierung erinnerte ihn an eine andere. Bis zwölf hatte er noch etwas Zeit, das herauszubekommen – kein Problem im Zeitalter der elektronischen Medien. »Hast du vergessen, daß du mein Sklave bist, für den heutigen Tag«, hatte die Tscherkessin neulich in Hannover zitiert und Rilke als Urheber vermutet. Viktor schob seine Lieblings CD-Rom in das Computerlaufwerk: »Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka«– eine Scheibe, mit der man drei Mal lebenslänglich bequem absitzen könnte.
Die Suche nach »Sklave« brachte dreihundertfünfundzwanzig Fundstellen, aber kein Rilke war dabei. Die meisten Sklaven gab es in historischen Romanen und Dramen, und im übertragenen Sinn kam der Sklave als Verkörperung der Unfreiheit vor, sehr hübsch bei Lichtenberg, der um 1778 von den »Sklaven der Opposition« sprach, was auch heute noch gut auf das klassische Kläffen derer paßte, die mit einer gewissen Automatik herumzustänkern begannen, wenn sie nichts zu sagen hatten. In gewisser Weise war Viktor als gelegentlich polemisierender Autor auch nicht frei von dieser zwanghaften Angriffslust. Ein »Sklave der Mode«– auch darüber mokierte sich Lichtenberg – war Viktor wenigstens nicht. In einem erotischen Zusammenhang schien Sklave, soweit Viktor in der Eile sehen konnte, nur beim schwulen August von Platen auf – typisch. Bei dem fanden sich die demütig verknallten Zeilen: »Wär’s Zufall, oder willst du mich betrügen?/Hast du vielleicht mich deiner wert erachtet?/Wenn, Augen, ihr mir nicktet oder lachtet,/Dann wollt ich stets mich euch als Sklave fügen!«
Noch fünf Minuten bis Mitternacht, und Viktor suchte jetzt nach »Hast du vergessen«. Auf den hundertsechzigtausend Seiten von Lessing bis Kafka prompt siebenundzwanzig
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