Der Liebessalat
kehligen Stimme. Er war bisexuell und schlug vor, daß sie es zu dritt miteinander trieben. Sie hatten gelacht und sich nicht getraut. »C’est normal!« hatte Auguste lachend gesagt, aber nicht weiter insistiert. Später hatten es Ella und er oft bereut, daß sie sich die Gelegenheit hatten entgehen lassen. Es war Viktors Schuld. Er war Ella immer damit in den Ohren gelegen, es mit einer zweiten Frau zu versuchen. Berührungen von Männern mochte er nicht. Auguste allerdings war kein Mann, sondern ein schwarzer Götterbote, eine mythologische Figur, die Verkörperung des souveränen Sex. Ein Jahr später dirigierte Auguste ein Vivaldi-Oratorium, das ironischerweise nur von Frauen gesungen wurde:
Judita Triumphans
. Er lud Ella und Viktor ein. Ella konnte nicht, weil ihre Mutter sich den kleinen Finger gebrochen hatte. »Ella, ich bitte dich, was ist der kleine Finger deiner Mutter!« hatte Viktor sie beschworen. »Fahr doch allein, er frißt dich schon nicht«, hatte Ella gesagt. Da war Viktor allein nach Brüssel gedonnert. »Zeig, was du kannst«, hatte er zu Auguste gesagt. Er wollte es wissen. Auch das war sehr aufregend und sehr erfrischend gewesen. »Du Schwein, ohne mich!« hatte Ella bei seiner Rückkehr gesagt. »Pardon, es war die Gelegenheit, meine Vorurteile gegen Schwule auszuräumen«, sagte Viktor. Wenn er jetzt daran zurück dachte, verstand er nicht mehr, wieso es mit Ella und ihm nicht gutgegangen war.
Also nicht zu Ellen ins Bett, aber was war dann mit dem Rest der Nacht? In Hamburg oder Berlin oder Köln wäre Viktor jetzt in eine Kneipe gegangen und hätte den ersten Telefonsex seines Lebens mit ein paar Gläsern Wein gefeiert. Selbst in Nürnberg und Bochum war das möglich. Nicht aber in Zürich. In München auch nicht. Alle Lokale längst geschlossen. Zu Hause allein trinken ging nicht. Also Weiterbildung, es gab keine andere Wahl.
Die Literatur-CD-Rom steckte noch im Computer, die Tafel mit den siebenundzwanzig Treffern des Ausrufs »Hast du vergessen« war noch auf dem Bildschirm, und Viktor machte sich ans Auswerten.
1887: »‘Bleib!’ schrie er –‘hast du vergessen, was wir tun wollen…’ Er wurde immer ungebärdiger und bedrohte die Dienerinnen… Die friedliche Klosterhalle stand in Gefahr, der Schauplatz eines Handgemenges zu werden.«– Das klang ganz rasant, fast so, als habe ein ins Kloster gestecktes Mädchen eingewilligt, sich von ihrem Helden erst ent- und dann verführen zu lassen, und als gäbe es dann Probleme. Aber so war es wohl nicht, denn die Sätze stammten aus einem obskuren Roman von Marie von Ebner-Eschenbach, in dem es höchstwahrscheinlich nicht so schön ruchlos zuging, wie es die Phantasie erwartete.
1819: Durchaus blutrünstig war eine Hast-du-vergessen-Stelle aus Grimms Märchen: Zwölf schöne Töchter hat der König. Jeden Morgen sind ihre teuren Schuhe zertanzt, doch keiner weiß, wo die Mädchen sich nachts herumtreiben. Wer das herausfindet, kann sich eine aussuchen und wird König. Versagt er, ist es zu Ende mit ihm. Reihenweise werden den erfolglosen Bewerbern die Köpfe abgeschlagen. Schließlich schafft es ein Kriegsheimkehrer. Sein Trick: einfach nicht den Wein trinken, den die netten Prinzessinnen anbieten und der natürlich so müde macht, daß man einschläft und ihnen nachts nicht nachspionieren kann. Man muß also tun, als ob man trinkt und schläft. Und schon holen die Mädchen ihre Ballkleider hervor und ziehen ihre Tanzschuhe an – they put on their high heel sneekers, wie der Rock ‘n’ Roller singen würde. Nur die jüngste Prinzessin schöpft Verdacht, dieser zerlumpte Bewerber könnte sich nur schlafend stellen. Sie bekommt von der ältesten Schwester zu hören: »Du bist eine Schneegans, die sich immer fürchtet. Hast du vergessen, wie viele Königssöhne schon umsonst dagewesen sind?« Im Klartext: »Hast du vergessen, daß bisher alle Idioten erfolgreich liquidiert wurden, die uns auf die Schliche zu kommen versuchten?« Ganz schön hart. Ob der Soldat, der sich nach dem Aufdecken des Geheimnisses die älteste Prinzessin zur Belohnung aussucht, mit dieser durchweg bösartigen und vergnügungssüchtigen Person glücklich wird, war zweifelhaft. Viktor notierte: »Märchen von den zertanzten Schuhen weitererzählen: wie die Ehe mit der grausamen Prinzessin aussieht.«
Weiter: 1776 schrieb Friedrich Maximilian Klinger gleich mehrere Theaterstücke, unter anderem ein besonders schlechtes, worin ein gewisser Julio rasend eine
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