Der Liebessalat
hatte Viktor keinen Freund Carlos, der zu ihm wie ein Coach zu seinem Schützling sprach: »Wir haben keinen neueren Autor, der so viel Stärke des Gedankens, so viel blühende Einbildungskraft mit einem so glänzenden und leichten Stil verbände.« Solche Komplimente waren heute kaum noch zu bekommen. Sie waren schon damals gefährlich. Sie steigen dem gelobten Clavigo sofort zu Kopf, er vergißt die Frauen, die er doch eben als einzige Motivation pries, und wird abscheulich ambitioniert: »Ich muß unter dem Volke noch der Schöpfer des guten Geschmacks werden. Die Menschen sind willig, allerlei Eindrücke anzunehmen; ich habe einen Ruhm, ein Zutrauen unter meinen Mitbürgern; und, unter uns gesagt, meine Kenntnisse breiten sich täglich aus, meine Empfindungen erweitern sich, und mein Stil bildet sich immer wahrer und stärker.« Carlos wendet ein: »Gut, Clavigo! Doch wenn du mir’s nicht übelnehmen willst, so gefiel mir damals deine Schrift weit besser, als du sie noch zu Mariens Füßen schriebst, als noch das liebliche, muntere Geschöpf auf dich Einfluß hatte. Ich weiß nicht, das Ganze hatte ein jugendlicheres, blühenderes Ansehen.« Die vor weit über zweihundert Jahren hingeschriebenen Sätze drangen Viktor ins Herz, und er nahm sich vor, seine Goethe-Aversion zu überdenken. Denn hier stand sie: seine eigene Produktionsformel: Auch Viktor fiel nur unter dem Einfluß von lieblichen und munteren Geschöpfe etwas ein. Nur wenn er wirklich liebte, konnte er Liebesgeschichten schreiben. Die Frauen gaben den Anstoß zu seinen Romanen und Erzählungen, sie sorgten für Leben und Durcheinander und für zusammenbrechende Bügelbretter. Die Sturm-und-Drang-Dichter hatten mit Anfang zwanzig ihre Dramen geschrieben, Viktor war Anfang vierzig. Er war zwanzig Jahre zu alt für solch pubertären Wirrwarr und über zweihundert Jahre zu spät dran damit. Und doch interessierte ihn nichts anderes als der Taumel der Kavaliere und die Rebellion gegen die Schranken der Liebe, die in anderer Gestalt nach wie vor existierten und einem das Leben schwer machten, bei Besäufnissen mit Freunden noch immer für ausreichend Gesprächsstoff sorgten und nach wie vor die Handlungen guter und schlechter Filme in Gang brachten. Der Fortschritt gegenüber Goethe und dem Clavigo gegenüber bestand darin, daß Viktor sich bemühte, kein Schwein zu sein. Clavigo war ein Schwein. Unverzeihlich, was er im Gespräch mit Freund Carlos über seine Liebe zu Marie sagt: »Es waren gute Zeiten, Carlos, die nun vorbei sind. Ich gestehe dir gern, ich schrieb damals mit offnerem Herzen, und wahr ist’s, sie hatte viel Anteil an dem Beifall, den das Publikum mir gleich anfangs gewährte. Aber in der Länge, Carlos, man wird der Weiber gar bald satt; und warst du nicht der erste, meinem Entschluß Beifall zu geben, als ich mir vornahm, sie zu verlassen!« Und Carlos, auch er ein Schwein, steht dem allein an seine literarische Karriere denkenden Freund sofort ekelhaft männerbündnerisch bei und macht die Frauen schlecht: »Du wärst versauert. Sie sind gar zu einförmig.« Einen Freund, der so spräche, würde Viktor hinauswerfen. Und Goethe war ein Schwein, nicht weil auch er Friederike Brion seiner Arbeit zuliebe im Stich ließ, und auch nicht, weil er sich mit einem Stück Literatur seine Schuldgefühle von der Seele geschrieben hatte. Er war ein Schwein, und zwar ein feiges und konventionelles Schwein, weil er aus der Sache ein Trauerspiel gemacht hatte, weil er dem Clavigo als Sühne für die Untat der falschen Versprechung und der gebrochenen Treue den Tod verordnet hatte. Somit war die Figur ausreichend bestraft, und der Autor konnte fidel seiner Wege gehen. Viktor war auch ein Schwein, auch ihm blieb nichts anderes übrig, als sich vor manchen Frauen zurückzuziehen, aber erstens tat er das nicht nach abschätzigen Gesprächen mit Männerfreunden, und zweitens hatte er den Frauen nie Treue versprochen. Und drittens würde er niemals eine Liebesgeschichte tödlich enden lassen. Denn das war billige Kompensation, durchsichtige Bußfertigkeit, säkularisiertes Sündenbewußtsein, literaturspießige Doppelmoral. Typisch Goethe eben. Und typisch kleines Fernsehspiel. Es war sehr einfach, mit Herzensleid und Trauer und düsterer Vergangenheit und ein bißchen Krankheit und Tod einem Buch Gewicht und Moral und läuternden Charakter zu verleihen. Das liebten die bildungsbürgerlichen Leser. Nichts war für einen Autor leichter, als seine mehr oder
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