Der Liebessalat
begriff, konnte man sich gleich einsargen lassen. Dann hatte man als Autor ausgespielt. Diese Generation war cool und absolut nicht lost.
Natürlich reizte ihn auch der Nasenring. Seit Jahren schon war dieser Schmuck Mode. Nie hatte er Gelegenheit gehabt, sich näher damit zu befassen. Schwer, sich Susanne oder Ellen mit einem Nasenring vorzustellen. Bei Bettina wirkte der Ring völlig unverkleidet. Jeder Mann hat einmal in seinem Leben das Recht auf ein Verhältnis mit einer Frau mit einem Nasenring, entschied Viktor. Wenn sie keinen Freund hatte, mußte er vorsichtiger sein. Zwanzig Prozent seines Herzens waren noch für Nasenringfrauen frei, reserviert sozusagen, und keinesfalls mehr als zwanzig Prozent würde er auch in Bettinas Herz beanspruchen wollen. Aus Paritätsgründen. Sonst kam es zu Schieflagen. Da geriet man ins Rutschen. Dann konnte es zu Tragödien kommen, von denen man besser nur träumte. Zwei Ehen hatte Viktor hinter sich. Er hatte Erfahrung.
»Ich schick dir das fertige Gedicht, wenn du mir versprichst, daß du mich anrufst, sobald du in Zürich bist«, sagte Viktor beim Abschied. Der Zug hielt. Viktor gab ihr einen zarten Kuß auf die Lippen, berührte mit dem Zeigefinger ihren Nasenring, stürzte aus dem Zug und klopfte von außen gegen die Scheibe. Er wollte warten, bis der Zug anfährt. Bettina aber deutete unsentimental auf ihre Uhr. Sie wußte, Viktor hatte es eilig und machte ein Zeichen, daß er nicht warten sollte und daß sie anrufen werde.
Viktor machte auf dem Bahnsteig ein ganze Reihe von Zeichen. Er wollte seinen Ärger über die modernen Zugfenster ausdrücken, die man nicht mehr öffnen konnte, wenn man sich anständig verabschieden wollte. Nicht einmal mehr klar hineinsehen konnte man von außen. Bettina lächelte erheitert, aber mit fragendem Gesicht. Sie schien die Pantomime nicht enträtseln zu können. Viktor blieb noch ein paar Sekunden stehen, wendete sich dann der Treppe Richtung Ausgang zu und atmete tief durch – beglückt und belebt von den letzten Stunden.
Bettina war keine Frau zum Anschmachten. Aber sie war ein Gewinn. Eine wie sie war Viktor noch nie begegnet. Keine Sekunde hatte er es störend gefunden, doppelt so alt wie sie zu sein. Ihr Tonfall, ihre natürlichen Bewegungen, ihre langen Beine, ihre unaffektierte Art, das mittelblonde Haar nach hinten zu schleudern – alles nichts Besonderes, aber alles zusammen hatte in Viktor Eindruck hinterlassen. Keinen tiefen Eindruck, aber einen, der eine Weile spürbar sein würde. Vier bis sechs Wochen würde das Bild dieser jungen Frau in ihm gegenwärtig sein. Mit ihren großen, fast etwas großspurigen Schritten würde sie ihn begleiten, wenn er allein durch die Straßen ging. Wenn er allein im Bett lag, würde sie manchmal zu ihm schlüpfen.
So war es immer, wenn Viktor eine neue Frau kennenlernte. Sie war zunächst eine unaufdringliche Gefährtin in seiner Phantasie, die dezent verschwand, wenn andere Frauen erschienen, und die flink wieder auftauchte, sobald er sich nach ihr sehnte. Wenn Viktor solche Frauen nicht wiedersah, verblaßten die Bilder allmählich und verschwanden nach einiger Zeit ganz. Er wußte dann noch von der Begegnung, aber das Gesicht dazu war seinem Gedächtnis entglitten.
Manchmal aber drängten solche Bekanntschaften in die Wirklichkeit zurück. Sie nahmen Viktor beim Wort, schrieben Briefe, riefen an und wollten sich wieder mit ihm treffen. Und es war jedesmal ein neues Erlebnis, wie die Wirklichkeit dem Phantombild der Erinnerung zunächst nicht standhielt, um sie dann plötzlich zu übertreffen – oder auch nicht.
Die ausgestiegenen Reisenden, die sich eben noch auf dem Bahnsteig drängelten, hatten sich verlaufen, die einsteigenden waren im Zug, es wurde ruhiger. Nur ein Rentnerehepaar irrte herum und konnte sich für keinen der Wagen entscheiden. Er war bockig, sie hysterisch, beide hoffnungslos. Es war ihnen nicht zu helfen. Viktor prägte sich das Bild als Warnung ein: Nie so werden! Dann lieber langsam vor dem Fernseher verfaulen. Wenn man dem Reisen nicht mehr gewachsen ist, verletzt es die Menschenwürde. Dieses Paar würde zankend Platz finden, und während einer von beiden schnaufend und empört den harmlosen Menschen, die dort saßen, das Reservierungsticket vor die Nase halten und sie zum Verlassen der Plätze auffordern würde, würden sich die beiden Gestalten wieder näherkommen. Noch eine Weile würden sie sich Vorhaltungen machen und die Schuld der Verwirrung hin
Weitere Kostenlose Bücher