Der Liebessalat
ablenkten, und darüber, nebenan in Zürich zu leben und ein Desinteresse an den deutschen Angelegenheiten pflegen zu können.
Die Reise nach München war ein voller Erfolg gewesen, nicht nur, was die musikalische Ausbeute betraf. Ein Agent hatte ihm Angebote gemacht, die ihm ebenso schmeichelten, wie sie ihn amüsierten und die seinen Marktwert als zufriedenstellend erkennen ließen – und das Beste war: er konnte es sich leisten, diese Angebote auszuschlagen. Den München-Aufenthalt hatte er nicht mit einem amourösen Abenteuer verbunden, statt dessen war etwas mehr Gedanken- und Gefühlsordnung in seine Liebesgeschichten gekommen. So klar und aufgeräumt schien ihm sein Leben, so wenig erfüllt fühlte er sich trotz seiner Liebschaften, die er in seinem Gespräch mit Adrian beziehungsweise in seinem Monolog vor Adrian so klein geredet hatte, daß durchaus noch Platz für etwas mehr Liebe in seinem Herzen entstanden war. Hinzu kam, daß ihm nach den keuschen Tagen in München körperlich tatendurstig zumute war.
So ging er einmal langsam durch den Zug hin und her, eine kindische Angewohnheit, die er schon längst hatte abstellen wollen, aber tatsächlich fand er erst dann seine Ruhe, als er festgestellt hatte, daß keine Sudanesin oder Inderin oder vielleicht sogar eine von den wenigen, wahnsinnig schönen Chinesinnen oder in Gottes Namen auch eine Allgäuerin im Zug sitzen und sich langweilen und sehnsüchtig auf seine Unterhaltung warten würde, um ihn dann später in ihre exotische Welt zu entführen – denn irgendwie fehlte ihm das in seinem Leben, in dem er immer alles regelte und schlichtete und auf die Reihe brachte: der Bruch mit allem bisherigen, weg mit allen Platten und Büchern und Bügelbrettern! Spurlos verschwinden und woanders ein völlig neues Leben beginnen! Wenn man schon Schriftsteller war, dann sollte man sich diese biographische Wendung nicht entgehen lassen. Nach ein paar Jahren im Hexenkessel von Neu- Delhi oder Schanghai konnte man immer noch in die alten Jagdgründe zurückkehren. Und wenn man sich nicht mehr einfügen konnte, wenn es einem nirgendwo mehr gefiel, sollte man endlich hoch hinauf in die Berge gehen, dorthin, wo es sehr kalt war, zwei Flaschen trockenen Weins in sich hineinlaufen und dann sich erfrieren lassen.
Es war keine Frau im Zug, mit der Viktor sein Leben hätte ändern wollen. Erleichtert nahm er wieder Platz und beschäftigte sich weiter mit seinen Platten und CDs, außer sich vor Neugierde auf zwei lange Stücke des Tenorsaxophon-Genies Coleman Hawkins, der in den fünfziger und sechziger Jahren nicht mehr so gut in Form gewesen war – mit Ausnahme der Phasen, in denen der Mann frisch verliebt war. Dann ließ er seine Zähne in Ordnung bringen, und sein Instrument hatte wieder die alte Leichtigkeit. Die beiden weit über zehn Minuten langen
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-Versionen waren von 1959 und 1962 und markierten laut Adrians Spezialinformationen genau den Zeitraum, in dem der alte Schwarze einer jungen Blonden nachstellte – eine Züricherin übrigens, wie Adrian wußte –, was seinen Sound balzend, kraftvoll und imponierend machte. »Her mit den beiden Platten!« hatte Viktor leise gerufen, zitternd vor Gier. Er hätte einen Tausender ausgegeben dafür, wenn sie nicht für ein paar Mark zu haben gewesen wären. Dann hatte ihm Adrian auch noch eine Videokassette des Jazzfilms überlassen, den Viktor mit Sabine im Hotelzimmer in der langen Nacht von Hannover gesehen hatte. Und damit war noch lange nicht Schluß mit den Schätzen. Am aufregendsten und anregendsten war eine Aufnahme von Duke Ellington und seinen Leuten 1956 auf dem Newport Festival. Ellington war damals mit seinem etwas langweilig und gefällig arrangierten Jazz ziemlich weit weg vom Fenster. Beim letzten Stück des Konzerts riß seinem Tenorsaxophonisten Paul Gonsalves offenbar die Geduld, er blies plötzlich ein rasantes Blues-Solo, und weil das beim Publikum gut ankam, hörte er damit nicht so schnell auf, sondern wurde im Gegenteil immer heftiger. Man hörte auf der Platte, wie das Publikum rasch immer begeisterter wurde, und im Begleitheft gab es dazu einen hübschen Augen- und Ohrenzeugen-Bericht: Nach ein, zwei Minuten nämlich war ein Mädchen aufgesprungen, hatte sich im Rhythmus bewegt und dem Publikum offenbar klargemacht, daß Jazz nichts zum bewegungslosen Lauschen sein muß. Und bald tobte das ganze Publikum. Auf einer nach allen Regeln der Kunst digitalisierten, neu
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