Der Liebessalat
Viktor spende ihr Trost und biete sich diskret als Ersatz an – und zugleich tröstete sie ihn so kräftig, als habe Ellen die Geduld verloren und ihn verlassen und er müsse nun ihr, Selma, dem Fräulein Strindberg folgerichtig einen Heiratsantrag machen, ein Entschluß, in dem er noch etwas bestärkt werden mußte.
Gerührt von der Erinnerung an diese kleinen Sekunden des Glücks griff Viktor zu Papier und Stift und schrieb: »Hochverehrtes Fräulein, was machen die Strindberg-Forschungen? Ich hingegen erforsche mich gerade selbst und versuche herauszubekommen, wie klein meine Chancen bei Ihnen sind, wie aussichtslos meine Lage ist. Sie könnten mir dabei helfen. Es gibt die verschiedensten Stufen der Aussichtslosigkeit, oder, um es positiv auszudrücken: Stufen des Potentiellen. Ich bitte Sie, folgende acht Hypothesen der Reihe nach zu bedenken – und anschließend meine Frage zu beantworten: Wenn (1.) meine Frau mich zum Teufel jagte, wenn ich (2.) also quasiledig und einsam und ohne Geld auf einer Insel die Geschichte meines Lebens zur Papier brächte, und (3.) meine letzten zehn Liter Wein für alle Fälle hütete und in einem extra gegrabenen metertiefen Erdloch kühl hielte und mich kasteite, weil ich das Gefühl hätte, der köstliche Saft könne noch eine bessere Verwendung finden als die, allein in meinem Körper sein Ende zu finden; wenn (4.) ein Schiff, auf dem das Züricher Theater-Ensemble einen Betriebsausflug durch das Südchinesische Meer unternimmt, von der indonesischen Mafia entführt würde, und Sie sich (5.) heimlich hätten ins Wasser gleiten lassen können und es Ihnen (6.) gelungen wäre, zu der zwanzig Kilometer entfernten Insel zu schwimmen, auf der ich seit einem Jahr einsam und allein lebe und schreibe, weil meine Ehefrau mit meinen erbärmlichen Ersparnissen durchgebrannt ist, was ich ihr nicht einmal verdenken kann. Wenn diese sechs Fälle einträten, könnte es unter Palmen zu folgender Begegnung von uns kommen: Herr Goldmann nähert sich dem nixenartig aus den Fluten steigenden Fräulein, in der Hand eine halbe Kokosnuß, gefüllt mit frischem Quellwasser. Das Fräulein schüttelt die nassen Haare aus dem Gesicht, labt sich, betrachtet Herrn Goldmann und sagt: »Was machen Sie denn hier? Warum sind sie nicht in der Zentralbibliothek und blättern in ihren Bildbänden über ferne Länder?« Herr Goldmann: »Schön, das Fräulein einmal nackt zu sehen! Steht Ihnen gut. Auch die Bräune!« Das Fräulein: »Leihen Sie mir bitte Ihr T-Shirt und werden Sie nicht anzüglich!« Herr Goldmann zieht das T-Shirt aus, riecht daran und sagt: »Dafür, daß ich es seit einem halben Jahr nonstop trage, geht es eigentlich.« Er betrachtet das noch nackte Fräulein und reicht ihr mit einer Geste des Bedauerns das Hemd. Das Fräulein zieht das Hemd über und sieht darin ebenso gut aus wie nackt. Das Fräulein: »Wenn Sie wirklich Format hätten, Herr Goldmann, würden Sie mir jetzt eine Karaffe eiskalten Weißweins kredenzen.« Herr Goldmann verschwindet in dem selbst gegrabenen zwanzig Meter tiefen Erdloch und kommt nach einigen Minuten mit einer beschlagenen Karaffe zum Vorschein. Nachdem sich das Fräulein erholt hat, dem Herrn Goldmann all die Filme erzählt hat, die er in seinem Jahr auf der Insel verpaßt hat, und nachdem sie beide viel über die Liebe geredet haben, nachdem in bester Rollenverteilung der Herr Goldmann etliche Hummer und Langusten gefangen und das Fräulein die Schalentiere gar köstlich zubereitet hat, nachdem drei, vier Wochen harmonischen Inseldaseins verstrichen sind, fragt das Fräulein Strindberg den Herrn Goldmann eines Sonnenaufgangs bei einem Schluck Palmwein – denn der Weißwein ist liquidiert: »Sag mal, Viktor«, fragt sie, denn sie duzen sich jetzt, »was hast du eigentlich all die Monate allein auf der Insel gemacht?« Da holt Viktor ein 3000-Seiten-Manuskript hervor: »Aus meinem Leben – Dichtung und Wahnsinn«, sagt er, »müßte gekürzt werden.«–»Zeig mal«, sagt das Fräulein. Sie zieht sich einen Tag mit dem Manuskript zurück. Bei Sonnenuntergang sagt sie: »Laß mich das machen.«– In den nächsten Wochen sitzen die beiden oft nebeneinander am Tisch und stecken über dem Manuskript die Köpfe zusammen. »Bist du das wirklich?« fragt sie manchmal beim Lesen und lacht. Er hebt die Schultern und sagt: »Ab Seite 2000 kommst du auch vor, dann wirst du selbst sehen, was wahr ist und was gelogen.« Ihr Haar riecht nach Meer, doch er wagt nicht,
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