Der Liebessalat
gemischt und gemasterten CD hörte man sehr schön, wie das Feuer der Begeisterung rasch um sich griff. Ein kleines unscharfes Foto zeigte eine junge hübsche Frau, die in sympathisch verhaltener Ekstase konzentriert und versunken mit gesenktem Kopf, das Gesicht nicht zu sehen, die Arme angewinkelt erhoben, sich im Rhythmus bewegte. Wenig zu erkennen, aber ein inbrünstiges Bild. Darunter die Zeile: »The girl that launched seven thousand cheers«– das Mädchen, das den siebtausendfachen Jubel auslöste – die Abwandlung eines alten Zitats, das sich auf die schöne Helena bezog: »The face that launched a thousand ships«– Das Gesicht, das tausend Schiffe in Fahrt brachte, ein Satz aus Christopher Marlowes
Doktor Faustus
, vierhundert Jahre alt. Der Jazz-Festival-Zeuge beschrieb bildhaft und lebendig, wie diese Frau alle mitriß–»a platin blond woman with a black dress on«. Die Stuhlreihen hätten bedrohlich gewackelt, die Veranstalter seien um die Sicherheit besorgt gewesen und hätten Ellington Zeichen gegeben, den nicht enden wollenden Mann am Tenorsaxophon zu bremsen. Andere Musiker aber, selbst der sonst eher fürs Elegante zuständige Teddy Wilson, hätten den rasenden Solisten im Gegenteil noch weiter angefeuert, denn sein kochendes Rhythm ‘n’ Blues-Solo war eine Wohltat nach all dem pseudointellektuellen Mainstream-Jazzgedudel. Mit diesem Auftritt am 8. Juli 1956 kurz nach Mitternacht hatte Duke Ellingtons Comeback begonnen.
Diese Geschichte war ganz nach Viktors Geschmack. Sie bewies, daß es nicht ging ohne begeisterte Frauen. Coleman Hawkins hatte seine Schweizerin gebraucht, um in Form zu kommen, und die Ellington-Band dieses Gogo-Girl. Und man hatte noch nicht einmal gewonnen, wenn man nur den Ton traf, er mußte auch gehört und vermittelt werden, wenn er wirken und Geschichte schreiben sollte. Er mußte ersehnt werden. Jemand mußte aufspringen. Ein Funke mußte überspringen. Nichts ging ohne die Sprünge der Frauen. Ohne Helena with a black dress on würde Duke Ellington vermutlich zu den zahlreichen Jazzmusikern gehören, die trotz genialer Anfänge nach dem Krieg in Vergessenheit geraten wären. Ohne die rabenschwarze Obszönität der Tscherkessin, ohne Sabines lila Lederhose, ohne Iras immer noch spannende Spontan-Verdrehtheit, ohne den Nasenring der Nasenring-Tina, ohne das süße spitze Hexenkinn von Fräulein Strindberg, ohne Ellens schwungvollen Spott ging nichts.
Viktor freute sich auf Ellen, auch wenn sie mit dem tosenden siebenminütigen Solo-Crescendo dieses von seiner platinblonden Helena angefeuerten und sie zurück anfeuernden Paul Gonsalves ihre Schwierigkeiten haben dürfte. Die Geschichte aber würde ihr gefallen. Und mit dieser Geschichte würde Viktor wieder einmal dezent und indirekt zum Ausdruck bringen, daß leider keine Ehefrau der Welt ihren Mann zu weltbewegenden Höchstleistungen anfeuern kann, sondern daß es immer die plötzlich ergriffenen Beauties sind, die einen ergreifen und anspornen und einem die Kraft und die Ideen geben zum Blasen von minutenlangen Soli oder zum monatelangen Schreiben von Romanen. Er dachte wieder einmal an Penelope, die unbekannte Italienischlehrerin, der er niemals begegnen wollte, weil die wirkliche Penelope nur das Bild zerstören könnte, das er von ihr hatte, dieses Bild, das ihn immer wieder einmal tröstete, wenn er am Boden war, obwohl er es nicht näher hätte beschreiben können. Vielleicht wegen ihres schönen Namens, vielleicht weil die Penelope des Odysseus für die Treue und für den Lohn des langen Wartens stand, hing Viktor treu an diesem Bild, obwohl er mit antiken Mythen sonst nichts am Hut hatte. Man konnte gut treu sein, wenn man sich zwanzig Jahre nicht sah, und einem zwanzig Jahre lang die dummen und häßlichen und langweiligen Züge des anderen nicht auf die Nerven gingen.
Die nächsten Tage würden dicht und voll werden, wahrscheinlich würde Viktor nicht dazu kommen, sich all seine musikalischen Neuerwerbungen einzuverleiben. Damenbesuch stand an. Die Tscherkessin, Sabine, die Nasenring-Tina hatten sich angesagt, und das war viel Wirklichkeit, Schlag auf Schlag. Nach all der Träumerei in letzter Zeit war das auch dringend nötig. Gleich morgen würde er die Züricher Hotel-Situation klären. Es würde strapaziös und aufregend werden.
Um sich zu entspannen, dachte er an das Fräulein Strindberg – an Selma. Was für ein schöner Name. Eine intimere Begegnung mit ihr stand in weiter Zukunft, wenn es
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