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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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überhaupt jemals so weit kommen würde. Ihr komplizierter Freund, ihre Scheu, ihre Zartheit, ihr Geheimnis – kein Zweifel, sie war es, für die er im Augenblick die sehnsüchtigsten Gefühle übrig hatte. Wenn die nun anstehenden Nächte in den Hotels hinter ihm liegen und die Nachbereitungsbriefe an Sabine, die Tscherkessin und an die Nasenring-Tina geschrieben, wenn Wiederholungen lüstern erwogen, aber noch nicht näher geplant sein würden, wenn er Ira von der heftigen erotischen beziehungsweise sexuellen Realitätsdosis berichtet und sich dabei über sich selbst lustig gemacht haben würde, wenn das Eheleben mit einem Kinobesuch, etwas Liebesgeflacker und einer gepflegten Rammelei wieder stabilisiert und schließlich die musikalische Beute aus München an schönen einsamen Vormittagen in voller Lautstärke angehört sein würde – in einer Woche oder zehn Tagen also –, würde er langsam mit dem Ernst des Lebens beginnen, an seinen nächsten Roman denken und wieder die Bibliothek aufsuchen, nicht der Bücher wegen natürlich, sondern wegen Selma, dem süßen Fräulein Strindberg mit dem spitzen Kinn. Es wurde immer klarer, daß sie es sein würde, die im Zentrum des nächsten Romans stehen sollte. Der Tscherkessin als Hauptfrauenfigur war Viktor noch nicht gewachsen, genauer gesagt: für einen pornographischen Roman fühlte er sich noch nicht reif genug – und nur als die Heldin wüster pornographischer Szenarien konnte er sich die Tscherkessin vorstellen. Selma aber zu beschreiben wäre eine reine und eine lohnende Wonne. Es machte ihn glücklich, an sie zu denken, es quälte ihn die Vorstellung, ihr komplizierter Freund könne sie bedrücken. Er brauchte die zärtlichen Gefühle nur abzuschreiben, die er ohnehin für sie hatte. Das für ihn vollkommen Neuartige an Selma war ihm erst aufgefallen, als er Adrian von ihr vorschwärmte: Sie hatte ein Funkeln in den Augen, das ihn seltsam geduldig machte. Es gab keine Eile. Nicht schlimm, wenn es lange dauerte, bis sie zur Sache kämen. Nun vorangehen mußte es, in kleinen Schritten. »Fräulein Strindberg«. Kein schlechter Titel für einen Roman: Sie hängt an einem netten kaputten Typen. Der bringt sich um, wenn sie ihn verläßt. Sich selbst würde Viktor diesmal vielleicht zu einem Arzt machen. In die Rolle des Anwalts war er schon mehrfach geschlüpft. Arzt wäre neu. Kolorektalchirurgie vielleicht. Wenn der Verehrer dem Fräulein seinen unappetitlichen Beruf gesteht, wird es erschrecken. »Kolo – was?« Entzückend, wie verzweifelt Selma dann sekundenlang aussehen wird, wenn sie das derbe Wort hört: »Dickdarmchirurg!« Sie erweckte oft den Eindruck, als neige sie zum Erröten, tat es aber nie.
    Je mehr Viktor an Selma dachte, desto mehr schmolz er in ihre Richtung dahin. Ganz langsam und zaghaft würde er sich ihr nähern. Der grausame Altersunterschied verbat ihm jedes Drängen. Den Chirurgen würde er ein bißchen jünger sein lassen.

    Bei der tscherkessischen Liebesnacht, die nun unmittelbar bevor stand, würde sicher einiges geboten sein, aber Viktor wußte jetzt schon, daß es für ihn ein nachhaltigerer Eindruck wäre, wenn er es in frühestens einem halben Jahr wagen würde, eine seiner Wangen eine Weile an eine Wange Selmas zu legen. Neulich war es zu einer kurzen kleinen Umarmung gekommen, und schon die war unvergeßlich: Sie hatten die Bibliothek zusammen verlassen, und Viktors Rad war nicht mehr da. Am Morgen hatte er es genossen, sein Rad an ihres zu lehnen. Nun war es weg. Sein Rad war nichts Besonderes. Aber es ist die Beleidigung, daß der Dieb fährt und der Bestohlene laufen muß. Vor allem hatte Viktor sich darauf gefreut, daß sie im Fall eines gemeinsamen Aufbruchs beide Seite an Seite gebeugt an ihren Schlössern herumstochern würden. Und dann Selma ein Stück begleiten. Nun nichts von all dem. Der Fahrraddieb hatte ein Symbol der Zusammengehörigkeit zerstört. Dieser Teufel hatte einen harmonischen Abschied vereitelt. Wütend und verzweifelt war Viktor dagestanden und hatte die Fäuste geballt, steif vor Zorn und Ohnmacht. Plötzlich entdeckte sie sein Rad ein paar Meter weiter um die Ecke. Offenbar hatte es nur jemanden gestört. Da umarmten sie sich, beide zugleich, erlöst und erleichtert, und hielten sich fest, solange es ging, viel länger, als man sich nach scheinbar gestohlenen und wiedergefundenen Fahrrädern normalerweise umarmt hält, fast so lang, als wäre sie von ihrem komplizierten Freund verlassen worden, und

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