Der Liebessalat
ersten Wagens. Er versuchte leise und eindringlich zu reden: »Paß auf, Arschloch-Kollege, du setzt dich in den Wagen zu ihr, aber weit genug hinter sie. Du packst die Geige aus und spielst ganz leise, wie nur du spielen kannst, eine kleine Melodie. »Lady Be Good« vielleicht. Dann dreht sie sich um, völlig bezaubert. Und sie wird ein bezauberndes Gesicht haben. Ich schwör es, Arschloch-Kollege.« Viktor schubste den schwerfällig und schwermütig und völlig desinteressiert wirkenden Adrian die Stufen hoch und rief ihm leise zu: »Ich ruf dich morgen früh aus Zürich an. Wenn du nicht geigst, will ich dich nie wieder sehen.« Er griff sich an den Kopf: »Mein Gott, wenn ich so Geige spielen könnte!«
Viktor wäre lieber eine halbe Stunde mit dieser Straßenbahn gefahren als jetzt stundenlang mit dem Auto nach Zürich zurück. Als er müde wurde, schlief er eine Stunde auf einem Parkplatz. Dann ging es weiter. Dutzende von Kassetten hatte er dabei, und keine gefiel. Er hatte wegen seiner prekären Finanzlage nur wenige Platten bei Adrian gekauft. Für wen auch? Er dachte an den Rücken dieser Frau in der Straßenbahn. Er malte sich aus, sie säße auf dem Rücksitz und sie unterhielten sich. Sie war unerschrocken per Anhalter unterwegs, und er hatte sie mitgenommen – ohne ihr Gesicht zu sehen. Der Mantelkragen hatte ausgereicht, um ihr zu vertrauen und sie sympathisch zu finden.
»Mitten in der Nacht trampen«, sagt Viktor vorwurfsvoll, »Sie können von Glück reden, daß ich kein Unhold bin.«
»Bitte nicht papihaft werden«, sagt sie und fragt, ob es ihn stört, wenn sie hinten das kleine Licht anmacht, sie würde gern ihr Buch weiterlesen.
»Nur wenn Sie mir sagen, was Sie da lesen«, sagt Viktor und ruft plötzlich: »Nein, nicht sagen! Lesen Sie und sagen Sie nicht, was es ist.« Er will sich vorstellen, sie lese ein Buch von ihm. Wenn die wirkliche Ira in einem wirklichen Zug beobachtet hatte, wie die ihr wildfremde Prinzessin Aza wirklich und wahrhaftig ein Buch von ihm wenn auch leider nicht gelesen, so doch immerhin aus dem Umschlag genommen und eine Weile in der Hand gehalten hatte, dann mußte es auch möglich sein, daß nachts Frauen durch die Gegend trampten, die Bücher von einem lasen, die ihnen so gut gefielen, daß sie in fremden Autos weiter lesen mußten. Die Frau mit dem Mantelkragen fragt sich natürlich unentwegt, was der Autor dieses Buchs für ein Typ sein mag. Es gibt drei Schlüsse dieser Geschichte. Erstens: Die beiden erfahren nie, wer sie waren. Grausames Schicksal. Zweitens: Es kommt heraus, doch sie hat sich den Autor anders vorgestellt und ist maßlos enttäuscht von ihm. Noch grausamer. Drittens: Sie sind begeistert voneinander und beschließen sofort ein Paar fürs Leben zu werden. Seine letzen Worte: O Scheiße, ich bin ja verheiratet, das hatte ich ganz vergessen!
Viktor war froh, daß er das Träumen noch nicht ganz verlernt hatte. Es reichte nicht zum Schreiben einer Geschichte, was ihm da durch die Birne gezogen war, aber es vertrieb ihm beim Autofahren die Zeit.
Früh kam er zu Hause in Zürich an. Ellen war noch nicht im Büro.
»Und?« fragte sie.
Die Reise war sinnlos gewesen. Er wußte nicht mehr, wie er sie begründet hatte. Er war ziemlich sicher, daß Ellen glaubte, er habe ein Liebesabenteuer gehabt. Was sollte sie sonst glauben? Sie sah so aus, als gönnte sie es ihm, weil sein Leben so ohne Liebe war. »Ich werde bald ein paar Auftritte mit Adrian haben«, sagte er und litt, weil die Wahrheit wie eine dürftige Lüge klang. »Nachts ging das Telefon«, sagte Ellen und stand auf: »Hör den Anrufbeantworter ab. Ciao Bello!«
Ciao Bello war neu. Vor Ellens Entsexualisierungskampagne hätte Viktor jetzt zitternd vor Aufregung den Anrufbeantworter abgehört, und sich mit allen Fasern seiner Seele gewünscht, ein reumütiges Fräulein Strindberg zu hören: »Viktor rette mich, mein Problemfreund hat mich nach zwei Therapiesitzungen verlassen und mein uralter Verehrer ist ein Brechmittel!«
Jetzt war Viktor zu solchen Träumen nicht mehr in der Lage. Es fiel ihm nur ein, daß er früher so etwas geträumt hatte. Vielleicht würde man sich mit sechzig oder siebzig oder achtzig ähnlich teilnahmslos an die Zeiten des einst unbeschwerten Vögelns erinnern.
Vielleicht war sein Lebenssystem nicht kollabiert, sondern er war nur erwachsen geworden? Er war ziemlich sicher, daß ihn viele Freunde für unerwachsen hielten. Restaurative Tendenzen. Die Zeit
Weitere Kostenlose Bücher