Der Liebessalat
Annette und wie die Freundinnen und Freunde alle hießen, hatten sich all die letzten Jahre mit deutlich abnehmendem wirklichen Interesse erkundigt, was Viktor als nächstes auf den Markt zu werfen gedenke. Er hatte dann immer ein paar Sätze zu seinem geplanten Buch gesagt, und die Freunde hatten genickt: »Klingt interessant.« Jetzt schwieg Viktor, wenn er überhaupt noch mit zum Essen ging. »Er hat die Krise«, sagte Ellen. »Er muß sich sammeln«, sagten die anderen, und Viktor betrank sich und schwieg. Die Zahl der Freundinnen hatte sich vermehrt. In jüngster Zeit saßen auch manchmal Rebecca und Bettina und Sabine und Susanne und Selma und Zweitexehefrau Ira mit am Tisch und wurden als Bereicherung empfunden. Wenn die verwandelten einstigen Liebsten dabei waren, fehlte Viktor mit Sicherheit. »Er brütet«, sagte Ellen. »Das ist normal«, hieß es, »warum soll er nicht auch einmal Schwierigkeiten haben mit seinem nächsten Projekt.«
Viktors Stoff war die Liebe gewesen. Dieser Stoff war ihm entzogen, und Ersatz nahm er nicht an. Ohne Stoff entglitten ihm Substanz und Selbstvertrauen, sein Marktwert schrumpfte. In wenigen Monaten entwickelte sich Viktor vom gefragten Autor zu einem, der auf dem besten Weg war, ein vergessener zu werden.
Er ähnelte nur noch einem Dichter. Viktor in seinem Arbeitszimmer war ein Bild des Jammers: Er raufte sich die Haare und war nicht in der Lage, zufriedenstellende Sätze auf dem Papier oder dem Bildschirm des Computers zu erzeugen. Er ging auf und ab und warf schwermütige Blicke aus dem Fenster, kramte ohne Verstand in seinen Schubladen, die Gesten des Versagens gingen ins Nichts. Er wählte Telefonnummern und legte auf, ehe eine Verbindung zustande kam, legte Platten auf, die er dann nicht hörte, öffnete Weinflaschen, die er nicht leerte. Zeitungen, Zeitschriften und Bücher legte er aus der Hand, sie konnten sein Interesse nicht wecken, er sichtete die Post ohne die Hoffnungen, die ihn früher dabei beseelten. Auch außer Haus blieben alle Bemühungen ohne Ergebnis: In Cafés nagte er am Stift – die Bibliothek besuchte er nicht mehr, weil ihm eine Begegnung mit Selma zu weh getan hätte.
Es wurde Herbst und Winter, es wurde Frühjahr und Sommer und wieder Herbst. In seiner aktiven Zeit hatte er kaum Zeit gehabt, sich die Fingernägel zu feilen, aber er hatte es getan. Jetzt, wo es Zeit im Überfluß gab, feilte er sie nicht, weil er nicht wußte, für wen, und er trug Cordhosen und dicke Wollpullover, um seinen Haß auf die eigene Häuslichkeit noch zu steigern. Die klassischen Zeugnisse seiner Unfähigkeit zu schreiben wurden immer deutlicher: Er zerriß Papiere und starrte uninspiriert ins Leere, in den Himmel, auf die Straße oder auf den Bildschirm, dessen »Frauendateien« auf dem Bildschirm ihm nur noch grotesk vorkamen.
Andere Autoren mochten sich von Trümmerfeldern und Scherbenhaufen inspirieren lassen, Viktor, der immer nur den Aufbau von Spannungen und das Wachstum der Gefühle beschrieben hatte, war angesichts der zerstörten Liebschaften wie gelähmt. Ein besserer Ehemann war Viktor durch das Fehlen außerehelicher Aktivitäten nicht geworden. Die Ehe mit Ellen, die er als ideales Sprungbrett für allerlei Saltos benutzt und geschätzt hatte, wurde von Tag zu Tag trostloser. Ohne die Vergleiche mit anderen Frauen war er zunehmend blind für die Attraktivität seiner Frau.
Das Schweigen der Männer hatte Viktor nie ausstehen konnte, und er war daher bemüht gewesen, es wenigstens mit Andeutungen zu übertönen, wenn gelegentlich Diskretion bewahrt werden mußte. »Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.« Den berühmten Schlußsatz Ludwig Wittgensteins hatte Viktor immer für philosophischen Nonsens gehalten – und für eine Unverschämtheit dem Schriftsteller gegenüber, der schließlich davon lebt, darüber zu schreiben, worüber andere nicht reden können oder nicht reden wollen. Einmal, als der reichlich bekannte Satz des gepriesenen Denkers aus Wien und Cambridge bei einer Abendessen-Einladung von einem anderen Gast wie eine Neuigkeit zitiert worden war, hatte Viktor sogar einen Wutanfall bekommen und behauptet, nur einem bedauernswerten Schwulen könne eine so blödsinnige Formulierung einfallen, Schwule seien ja oft kolossale Geheimniskrämer, habe er beobachtet. Es müsse »irgendeinen Zusammenhang geben zwischen dem Schwulsein und dem bedeutungsvollen Schweigen«, vermutlich sei das Schwulsein so toll, daß es eben
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