Der Liebessalat
Viktor war sicher, daß die Wirkung von Ellens Enterotisierungsfeldzug nicht von Dauer sein würde und sich eines Tages wieder so etwas wie ein Flämmchen für Ira zeigen würde – und hoffentlich auch für die Tscherkessin –, zumindest mit diesen beiden Frauen durfte es nicht für immer zu Ende sein. »In der Kathedrale meines Herzens wird immer eine Kerze für dich brennen«– den netten kitschigen Satz aus der Verfilmung von Franz Werfels
Jacobowsky und der Oberst
konnte man sich auch für die Frauen ausleihen.
Nun also war Penelope sein erotisches Phantom geworden, und es verging fast kein Tag, an dem sie ihm nicht erschien und ihn nicht begleitete. Viktor hatte eine Vorstellung von ihrer Gestalt, von ihrem Gang, von den locker pendelnden Armen. Er sah nicht ihr Gesicht, nicht ihre Lippen, nicht ihre Nase. Manchmal ahnte er ein Lächeln, manchmal einen glühenden Blick. Sie war seine intimste Vertraute, sein ganzer Trost – der Sex mit Penelope würde der ruhigste und zugleich konzentrierteste sein, den er je erlebt hatte.
Viktors Visionen von Penelope folgten einem Grundmuster und wurden dann variiert. Meist begann es, in dem Viktor zügig aus einem Tal kommend bergauf ging. Bei der Demarkationshöhe von eintausendzweihundert Metern, die Viktor am Geruch der Wiesen und der Bäume erkannte, nahm die Bergwelt durch Viktors pubertäre Konditionierung schlagartig einen erotischen Charakter an. Wenig später gesellte sich alpingazellenartig Penelope zu dem einsamen Wanderer und begleitete ihn mit federnden Schritten. Kein Wort war nötig. Nichts, das geklärt werden mußte. Nur Liebe und das Glück, zusammen zu sein. Es gab keine anderen Menschen. Es gab nur Penelope und ihn. Es pfeift die Dohle und die Gemse und das Murmeltier. Viktor, der den Rummel der Großstadt braucht, ist mit einem Mal ein genügsamer Naturmensch. Er ist jetzt kein Schriftsteller mehr, sondern nur Penelopes Mann – und sonst gar nichts. Ira hätte ihre Freude an der Absolutheit seiner Liebesgefühle. Es gibt keine Sprache mehr. Da auch in Visionen gerastet werden muß, nehmen Viktor und Penelope auf einem warmen trockenen Rasenstück Platz und stärken sich mit ein paar Bissen. Und dann geschieht es. Sie sinkt an ihn hin, er hält sie, stützt sie, läßt seinen Oberkörper dann aber doch langsam auf das warme Gras kippen, sie faßt mit ihren beiden wundertätigen Händen sein Gesicht, eine Geste innigster Bereitschaft, sie streichelt mit ihren Daumenkuppen seine Backenknochen und flüstert: »Viktor, mein Viktor…« Manchmal auch italienisch: »Vittorio…« Oder das ungewöhnlichere, altmodischere: »Vittore…« Sie nennt seinen Namen, fassungslos vor Liebe, Tränen des Glücks stürzen aus ihren Augen. Er kennt ihre Stimme nicht, nur dieses überwältigende Flüstern. Auch aus seinen Augen quillt und läuft es nun. »Ja«, denkt er oder sagt er womöglich leise, »ja, ich bin dein«– Worte, die Viktor noch nie zu einer Frau hatte sagen wollen und zum Glück auch noch nie gesagt hatte, denn es wäre eine üble Lüge gewesen. Man mußte nicht immer die Wahrheit sagen, man konnte durchaus sagen »Es ist nichts Ernstes«, wenn es ernst war. Das war verzeihlich. Aber man durfte nicht »Dein ist mein ganzes Herz« sagen oder singen, wenn es nicht stimmte. Jetzt zum ersten Mal in seinem Leben war es wahr geworden: Ja, ich bin dein! Es gab keine anderen Frauen mehr. Nur noch Penelope. Wollust der ewigen Treue. Hier, im Trugbild der Phantasie war es möglich. Viktor sah das Ganze als antike Skulptur vor sich: Er war nicht Odysseus, aber auch er war nach jahrelangen Irrfahrten und vielen Verwundungen als Sieger heimgekehrt und hatte die einzig wahre Liebe gefunden, und so wie sich Penelope über ihn beugte, bestand kein Zweifel, daß er der Mann war, den sie brauchte, und daß sechzehn Jahre kein Altersunterschied waren. Und aus dieser rührenden, innigen und trotz des fehlenden antiken Gestades zum Glück völlig undeutschen Szene entwickelte sich fernab allen bedenklichen Fickens und unbedenklichen Vögelns ganz von selbst etwas, das man nur mit dem feierlichen Wort »Vereinigung« bezeichnen konnte, die sanfte Penetration, ein vorsichtiges Hineinwachsen in Penelopes ebenso zarten wie zähen Körper, kein alpines Berghasengerammel, sondern eine liebevolle Verschmelzung, die mal nicht mit dem von der Konsum- und Freizeitgesellschaft erwarteten brüllenden Explosionsorgasmus endete, sondern, auch um nicht ekstatisch in den Abgrund zu
Weitere Kostenlose Bücher