Der Liebessalat
Bergen ein Erlebnis, das ihn erstmals an seinem Verstand zweifeln ließ. Vielleicht war dieses Phantasieren doch nicht so harmlos, vielleicht wurde das Wahrnehmungsvermögen dadurch beschädigt? Es war ein Sonnentag im Sommer, ein ausgesucht schöner Bergweg in einer Bilderbuchgegend bei Bern. Viktor ging allein bergauf, wie immer rasch und ohne Ziel. Noch dachte er nicht an Penelope, noch dachte er an das Auto, das zur Reparatur gebracht werden mußte, an die Wohnung in Frankfurt, die er wenigstens aufräumen und untervermieten sollte, auch wenn man das laut Mietvertrag nicht durfte. Er dachte an seine Schuhe, die bald durchgelaufen sein würden, und daß er sich zwei Paar hätte kaufen sollen, denn die Mode wurde immer schlimmer.
Er ging durch ein kühles Waldstück, an dessen Ende man schon sonnige Wiesen sah. Als er dort ankam und es schon wärmer wurde, sah er am Waldrand mit einem Mal die schönste Frau der Welt.
Viktor hatte schon oft in seinem Leben die schönste Frau der Welt gesehen – man empfand das so und sagte es so: »Boah, Wahnsinn, noch nie hat die Netzhaut deines Auges ein solches Bild erreicht!« Jeder Mann, der für Reize dieser Art empfänglich war, dachte das immer wieder einmal. Der Superlativ war nicht mehr als eine Metapher für die Liebe auf den ersten Blick. Als Viktor einst die Prinzessin Aza unter den Züricher Verlagsleuten erblickt hatte, war das in diesem Augenblick auch die schönste Frau der Welt gewesen.
Diese Frau am Rand der Bergwiese aber gehörte einer anderen Kategorie an. Sie war ohne jede Übertreibung und ohne jede Metaphorik wirklich die allerschönste, die er je gesehen hatte, nur war sie leider zugleich vollkommen unwirklich, so körperlich sie auch wirkte. Denn sie gehörte ganz offensichtlich nicht hierher. Hier waren die Schweizer Alpen, und diese Frau schien eine Inderin zu sein, nicht nur erkennbar an dem Klecks auf der Stirn. Es wäre unwahrscheinlich genug, eine Inderin in den Schweizer Bergen herumstehen zu sehen, aber warum nicht, es war noch nachvollziehbar, warum sollte es keine indischen Computerspezialistinnen in der Schweiz geben, die an einem freien Tag eine Bergtour machten? Ein solche Inderin hatte Viktor immer einmal kennenlernen wollen, eine normalschöne Inderin mit großen indischen Augen. Diese aber hatte märchenhaft schöne Augen und trug feinste indische Gewänder – eher unwahrscheinlich, daß eine Computerspezialistin in diesem Aufzug eine Bergtour machte. Sie hatte hier absolut nichts zu suchen, so schön sie war, so war sie doch ein Fremdkörper in dieser schönen Gegend. Sie war ein Gespenst, das schönste Gespenst der Welt.
Viktor begriff: das war die Strafe für sein ewiges kindisches Phantasieren, dies also war der Tag, an dem Viktor Goldmann endgültig verrückt wurde, wie soviele seiner Schriftstellerkollegen vor ihm. Das Verrücktwerden war etwas aus der Mode gekommen, eine nette Ironie, daß es noch einmal einen Autor erwischt hatte, der eine Schwäche für das Altmodische hatte und die vielen Moden verabscheute. »Übergeschnappt«, sagte man sehr treffend, denn tatsächlich war das harmlose Phantasieren wie mit einem Schnappen von einem Augenblick zum anderen in ein krankhaftes Halluzinieren übergesprungen.
Verrückte, sagte man, könnten Einbildung und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden, und so war es auch jetzt. Wie die armen Schizophrenen präzise ihre Wahnwelt beschreiben, um die Ungläubigen von deren Existenz zu überzeugen, so hätte Viktor wie ein idealer Zeuge diese Frau jedem Kriminalkommissar oder Psychiater detailgenau beschreiben können. »Aber Herr Goldmann, was soll eine solche Frau denn da oben gemacht haben?«–»Das weiß ich doch auch nicht«, würde der verzweifelte Viktor sagen. Und dann, den Kopf tief gesenkt: »Ich hatte zuerst den Eindruck, Herr Doktor, diese Frau beim Pinkeln überrascht zu haben.« Viktor würde irre kichern müssen bei dieser Aussage, und der Seelenarzt würde ihm ein Glasdöschen mit großen Dragees reichen, lila glasiert wie die lila Lederhosen von Sabine und der Tscherkessin: »Drei Mal täglich, Herr Goldmann«, würde er sagen, »das wird Sie beruhigen. Aber kein Alkohol!« Und dann würde dieses Schwein von Psychiater einen Forschungsbericht schreiben und seinen wissenschaftlichen Ruf als Entdecker des sogenannten Goldmann-Syndroms begründen, mit dem er den Beweis antrat, daß entgegen aller bisherigen Vermutungen das Phantasieren kein harmloses Kompensieren der
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