Der Liebessalat
Wirklichkeit sei, sondern ein höchst gefährlicher Zeitvertreib, sehr viel riskanter als Drogenkonsum, weil nämlich durch das exzessive Mobilisieren der Einbildungskräfte gewisse Gehirnzellen nicht, wie man bisher annahm, trainiert, sondern deformiert und schließlich ruiniert würden. Wie übertriebenes Fitneß-Training zur Sucht werden und zu körperlichen Schäden führen könne, so zeige das Goldmann-Syndrom, wie schnell übertriebenes Phantasieren in der geistigen Umnachtung ende. Während die klassische Sexualphantasie relativ harmlos sei, so würde das Schwein von Psychiater weiter ausführen, und in den schwersten Fällen lediglich dazu führe, daß die Befallenen durch hemmungsloses Onanieren an öffentlichen Plätzen unangenehm auffielen, sei es ein Symptom des Goldmannschen, mehr erotisch als sexuell geprägten Phantasierens, daß der Kranke sich nur in den seltensten Fällen onanierend Luft verschaffe und dadurch das erotische Wunschbild eben nicht zum Platzen bringe, sondern als ein glänzendes Ziel der Sehnsucht vor Augen erhalte. Dann würde das Schwein von Psychiater auf dem großen Psychiatrie-Kongress Viktor dem erstaunten Fachpublikum vorführen. Er würde ihn aus der Gummizelle befreien und ihm ins Ohr zischen: »Jetzt darfst du wieder deinen Stuß erzählen, du Idiot!« Und Viktor würde vor das Fachpublikum treten und sprechen: »Sie war die schönste Frau der Welt, ich schwöre es, und eines Tages wird man sie finden, und sie wird mich erkennen, und die erbärmliche Theorie dieses psychiatrischen Scharlatans, der sich an meinem Fall gesundstößt, wird in sich zerfallen, und es wird sich herausstellen, daß alles wirklich so war, wie ich sagte, daß ich nämlich die schönste Frau der Welt am Waldrand beim Pinkeln im Berner Oberland überraschte.«
Die schöne Inderin schien von Viktors plötzlichem Auftauchen tatsächlich überrascht zu sein, fing sich aber sofort und schenkte ihm ein Lächeln, märchenhaft, und als wäre das noch nicht genug, hob sie die Hand zu einem kleinen Gruß. Und dann, wie um den Realitätscharakter der Halluzination zum Äußersten zu treiben, begann das Traumbild zu sprechen: Nicht etwa in einem unverständlichen Indisch oder Schweizerdeutsch, sondern in einem warmen gebrochenem Englisch: »It is a paradise here, isn’t it.«
Leider reichte sie Viktor keinen Paradiesapfel, leider hing keine Schlange vom Baum. Für diese indische Eva würde er jede Vertreibung aus dem Paradies in Kauf nehmen, wenn sie nur echt und kein Abbild seines Wahns wäre. »Yes, it is«, sagte er. Doch die schönste Frau der Welt kam nicht auf ihn zu und reichte ihm nicht die Hand zum Bund des Lebens. Typisch für so eine Wahnwelt, dachte er, daß sie einen ausschloß. Sagenhaft plastische Gaukelbilder, naturgetreue Farben und sogar eine menschliche Stimme – aber die Interaktivität ist sehr begrenzt. Wieder mal nur glotzen und nicht mitspielen dürfen. Da konnte man gleich in der Wirklichkeit bleiben. Ganz offenbar war diese Frau nicht greifbar, vermutlich würde sie sich in Luft auflösen, wenn er auf sie zuginge und sie anzufassen versuchte.
Um den Spuk perfekt zu machen, stand da mit einem Mal ein Mann auf der Wiese, der auch nur zu dieser Wahnwelt gehören konnte, ein indischer Prinz nämlich, der tatsächlich besser zu der schönsten Frau der Welt paßte als der doppelt so alte Viktor mit seiner Cordhose und seinem dicken Wollpullover. Auch der Prinz war jung und schön und ganz in weißer Seide. Er rief etwas Indisches, sie antwortete Indisch, drehte sich um und verließ Viktor nun für immer, allerdings nicht, ohne ihm noch einmal zugewinkt zu haben. Dieses Winken immerhin war unvergeßlich und eine psychiatrische Behandlung wert. Dann ging sie über die Wiese auf ihren Prinzen zu, der ihr ungeduldig die Hand entgegenstreckte, und beide verschwanden hinter einer Kuppe.
Viktor machte einen letzten Versuch, die rätselhafte Erscheinung rational zu klären. Er folgte dem unwirklichen Paar. Wenn hinter der Kuppe nichts wäre als Schweizer Kühe, deren Gebimmel man schon hörte, würde er morgen einen Seelenarzt aufsuchen, und wenn der ihm Pillen verschreiben würde, würde er die schlucken, und wenn der ihn einweisen würde, würde er sich nicht sträuben.
Hinter der Kuppe aber sah er ein Zelt und einen Omnibus und eine offene Kochstelle, und es roch nach Curry und Chicken Tandoori. Ein paar Dutzend Inder wuselten herum, einige in seidenen Saris, andere in Jeans. Viele Kameras
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