Der Liebessalat
Frankfurter Beate hatte er sich im Geist lange darüber unterhalten. Auch mit Aza hatte er gesprochen – und Nadja war wieder aufgetaucht aus der Erinnerung und Valeska sogar, auch sie waren große Hoffnungen in seinem Leben gewesen. Lauter milde, klärende, versöhnliche Gespräche. Und Penelope, das still lächelnde, unerkennbare, unbegreifliche Phantom, war zuverlässig immer in der Nähe, bereit, sein von den Irrfahrten der Phantasie müde gewordenes Haupt zu streicheln.
Früher hatte Viktor Illusionen gehabt – und nicht selten hatte er hübsche Bruchteile dieser Illusionen als reale Gewinne einstreichen können. Seine erotischen Phantasien hatten ein Ziel gehabt – und auch gewisse Ergebnisse. Jetzt war es mehr ein Essay über die Liebe, was er auf seinen Touren zusammenphantasierte, eine etwas wehmütige Analyse seines Lebens, mit dem Ergebnis, daß die Jahre der Vielfalt und der künstlerischen Aktivität wohl vorbei waren – ein bißchen früh. Der verpönte Goethe hatte sich im hohen Alter noch verlieben können, die meisten großen Autoren konnten das. Bei anderen erlosch die Fähigkeit, sich zu verlieben und seine Verliebtheit auszudrücken schon mit achtzehn, dann wurden sie Arzt oder Apotheker und gingen in Filme, in denen große Gefühle versprochen wurden. Bei Viktor hatte die erotische Energie immerhin bis Anfang vierzig gereicht – traurig, sehr traurig, aber kein Grund, sich das Leben zu nehmen. Oder doch?
Was hatten die Leute immer mit ihrer lächerlichen sexuellen Potenz. Auf die erotische Potenz kam es an. Nie hätte Viktor geglaubt, daß seine polygamen Gelüste versiegen könnten, daß er sich je von einem produktiven Menschen in einen stinknormal kunstkonsumierenden Kulturbürger verwandeln würde, der ab und zu gemütlich vögelt, der sich die Kicks aus einer Welt fremder Sublimationen greift und sich an den Feuern anderer wärmt. Was für ein Leben würde ihm bevorstehen? Es würde noch soweit kommen, daß Ellen und er ein Theaterabonnement nähmen – Sonntag grün, Samstag rot: Und dann sich all die Leidenschaften, die man vermißt, auf der Bühne ansehen, und danach Wein trinken und sich gut unterhalten mit Freunden, und an keine Selmas und Tscherkessinnen denken dabei, oder vielleicht doch denken, aber nicht mehr in höchster Anspannung an das nächste Treffen mit ihnen denken, sondern nur vage entspannt sich an sie erinnern. Zwei Paare, drei Paare, vier Paare, guter Wein, gute Unterhaltung. Jeder träumt ein bißchen was anderes – oder träumt man dann schon nicht mehr? Es geht nach Hause und ins Bett, und man schläft miteinander oder auch nicht. Man kommt sich wieder näher, oder man entfernt sich ein bißchen voneinander, man ist ein bißchen still oder ein bißchen gesprächig. Vielleicht war das die Liebe? Und all diese vielen Briefe und diese Hoffnungen, all das Zittern und Bangen, das Verstecken und Verkleiden und Verdrehen und Erhitzen und Entblößen der Gefühle, all dieses wahnsinnige Hin und Her zwischen Ella und Ira und Ellen und Ira und Aza und Selma und der Tscherkessin und früher Nadja und Valeska – all das war vielleicht pure Hysterie gewesen, immer nur Suche und Suche und Suche nach Liebe und nie die Liebe selbst, die dann eben doch, wie der Standesbeamte gesagt hatte, ein Hafen war, ein Bett im Schlafzimmer, die Heizung aus, das Fenster auf, man ist aus dem Theater gekommen, trägt Pyjamas, wärmt sich aneinander und freut sich, daß es nicht so dramatisch zugeht wie auf der Bühne. Vielleicht war es das, das Glück. Wenn es das war, war Viktor auf dem besten Weg dorthin. Wenn er nicht vorher irgendwann höher in die Berge steigen würde, um sich im Eis zu besaufen und sich tieffrieren zu lassen dort oben. Das sollte ein schöner Tod sein, hieß es. Denn Ellen in Ehren – eine geeignetere Frau für ihn war kaum vorstellbar –, aber als Theaterabonnent die nächsten Jahrzehnte zu verbringen, das war ebenso wenig vorstellbar. Nur noch Romane lesen und keine mehr haben, das wäre zu hart. Dann lieber Schluß.
Bisher griffen die Leute gern tötend oder sich selbst tötend zum Dolch oder zur Pistole, wenn sie feststellten, daß der Ehepartner sie betrog. Für Viktor und Ellen gab es keinen Betrug, das hatten sie so vereinbart. »Du liebst einen anderen!«–»Du liebst eine andere!«– Solches Geschrei hatten die Wände der Wohnung von Viktor und Ellen Goldmann noch nie gehört. Die Liebe war ein Kraut, das wuchs wie verrückt, es blühte mal so, mal so,
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