Der Liebessalat
Bregenz aufzulegen. So sehr sie Viktor das Vergnügen gönnte, so fand Ellen doch, dies sei keine Beschäftigung für einen mittlerweile vierundvierzig Jahre alten Mann.
»Du hast keine Ahnung, ich bin Kult«, sagte Viktor und hatte nicht einmal völlig unrecht damit. Er legte hauptsächlich Jazz- und Rock-Musik auf, mit der seine männlichen Romanfiguren das Herz und die Beine der weiblichen in Bewegung zu bringen versuchen, oft mit Erfolg – und dieser Erfolg übertrug sich auch auf die Wirklichkeit. Zu Viktors Entzücken sprangen schweizerische, österreichische, badische und schwäbische Diskothekenbesucher nach den ihnen größtenteils unbekannten heißen Rhythmen der sechziger, aber auch der zwanziger und dreißiger Jahre wie die Wilden herum. Viktor lernte, daß man keine Fehler machen durfte, indem man ein falsches Stück auflegte, das die Stimmung jäh abkühlte, anstatt sie weiter zum Kochen zu bringen. Zu später Stunde sprang Viktor gern selbst auf die Tanzfläche und ließ seine Beine wie die Klöppel eines Trommlers auf den Boden schlagen. Einmal hatte er in München aufgelegt und verkündet, er halte nichts vom modischen Scratchen, mit dem die DJs ihre Platten traktierten, er habe jemanden mitgebracht, der auf der Geige scratchen könne – und dann war Adrian als spezieller Gast aufgetreten und hatte elektrisch verstärkt so schmissig in die Rockmusik hineingegeigt, daß die Leute bis morgens um sieben um mehr gebettelt hatten.
Nicht immer erlaubte die Räumlichkeit, daß getanzt wurde. Auch die Veranstalter eines harmlosen Züricher Sommerseefests mit dem neckischen Namen »Tollwut« baten Viktor um einen Auftritt, und sie bekamen ihn.
Die Veranstaltung war gut besucht. Die Musik kam an, die Stimmung war äußerst heiter. Wegen der Enge war an tänzerische Ausschreitungen nicht zu denken. Viktor erläuterte zwischen den Musikstücken den literarischen Zusammenhang und wunderte sich wie immer, daß die Leute, vor allem die Frauen, für die manischen Fraueneroberungsstrategien seiner Romanhelden etwas übrig hatten. Nach der Vorstellung rief ihm jemand aus dem aufbrechenden Publikum zu: »Danke für das Vergnügen.«
Gerührt fing Viktor an, am Boden kniend, seine kostbaren Scheiben zusammenzupacken und in ihre Hüllen zu stecken, als er neben sich einen jungen gutgelaunten Mann bemerkte, der offenbar eine Frage hatte. »Bitte?« fragte Viktor. Der junge Mann hatte die Musik »super« gefunden, nun wollte er wissen, wo Viktor das nächste Mal auflege. »Wir würden gern wiederkommen«, sagte er und deutete hinter sich.
Einige Schritte entfernt stand eine junge Frau und sah her. Von all den hübschen Frauen, die im Lauf der Jahre auf einer Veranstaltung von Viktor gewesen waren, war sie die ungewöhnlichste. Ohne zu lächeln, hatte sie etwas Strahlendes. Eine innere Glut. Da war er wieder – endlich – der altbekannte und schon lange nicht mehr dagewesene, schon tot geglaubte, blitzartige Wunsch: Ihr nach! Mit ihr ans Ende der Welt!
»Bongo Bar Basel«, sagte Viktor. Obwohl der Mann ihn gefragt hatte, antwortete er dieser Frau. Wie konnte es sein, daß ihm eine derart attraktive Erscheinung im Publikum zwei Stunden lang nicht aufgefallen war. War er schon blind geworden durch seinen erotischen Entzug? Er hätte während seines Auftritts zu ihr hingeredet und ihren Blick zu fangen versucht. Dann wäre sie jetzt vertrauter. Dann würde sie vielleicht lächeln und nicht so aussehen, als wolle sie gleich verschwinden.
»Bongo Bar Basel«, wiederholte der junge Mann, »super – und wann?«
Wie sie da stand. Schmal in einem Anorak. Dunkel leuchtend und bereit zu gehen. Draußen nieselte es. Viktor saugte das Bild in sich auf. Es gab nicht viel Zeit, es sich einzuprägen. Er wollte es nie vergessen.
»In vierzehn Tagen«, sagte Viktor, »am 12. Juli. Aber nicht so wie heute. Es wird getanzt.«
Sie sah dem jungen Mann ähnlich. Beide waren dunkel. Auch er hatte etwas Strahlendes. Vielleicht Geschwister? An der unsinnigen Hoffnung, sie könnte die Schwester des jungen Mannes sein, spürte Viktor, daß es um ihn geschehen war. »Am 12. Juli«, wiederholte der junge Mann und nickte: »Wenn wir Zeit haben, kommen wir.« Er deutete wieder hinter sich: »Meine Freundin tanzt gern.«
Die Spur eines Lächelns war jetzt auf dem Gesicht der schönen jungen Frau, die also nicht die Schwester des schönen jungen Mannes war. »Vielleicht bis dann«, sagte der, und dann gingen sie.
»Ich würde mich
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