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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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Viktor, ob man als einer von Hunderttausenden von Realschülern eine unerreichbare Popsängerin verehrte oder ob man als mehr oder weniger etablierter Schriftsteller, der immer wieder mal mit interessanten und berühmten Frauen zusammentrifft, die Schönheit einer scheinbar unbekannten Frau entdeckt und sich die Mühe macht, sein eigenes Idol zu wählen, und sich nicht von den üblichen kokainschnupfenden Großschauspielerinnen oder umwerfend exaltierten Dichterinnen beeindrucken läßt.
    Nach diesen Überlegungen war Viktor mit sich im Reinen. Bei Lesungen legte er zwischendurch gern ein paar Stücke von der Musik auf, die in seinen Büchern gespielt wurden. Dann rauchte und trank er und wippte mit dem Fuß dazu, und es konnte vorkommen, daß die eine oder andere Besucherin aufstand und sich zu bewegen begann. Wenn sich kein Tänzer fand, sprang Viktor hinzu und tanzte mit, eilte dann wieder zu seinem Pult oder Tisch zurück und fuhr mit seinen Texten fort. Es war eine willkommene Unterbrechung des kulturbürgerlichen Leserituals, und als er der Nasenring-Bettina vorhin im Zug davon erzählt hatte, war ihr einziger Kommentar »Geil!« gewesen.
    Leider gab es keinen CD-Player in dem Veranstaltungsraum, und es konnte auch keiner mehr aufgetrieben werde, wie ihm Sabine gesagt hatte. Er würde also das Publikum ohne Musik in Fahrt bringen müssen, das heißt, er mußte die Textpassagen noch etwas zusammenstreichen. Unabgelenkt von langen Beinen und Nasenringen dauerte das nur wenige Minuten. Danach machte er sich noch ein paar Notizen zu dem zuvor durchdachten Thema »Möbelprospektschönheit als Idol« und starrte bei Gelegenheit auf seine auf die Serviette notierten Worte »Ehe als Liebschaftenwertebewahrungsanstalt« und »Lyrik und Sozialismus«. Vor kurzem erst aufgeschrieben, war es ihm schon wieder zu weit weg, er verstand die Stichworte nicht mehr und war zu faul, über sie nachzudenken. Wozu machte man sich Notizen, wenn man sie wenige Stunden später nicht mehr begriff? Die Worte lösten nicht mehr die Idee aus, die Viktor eben noch vorgeschwebt hatte.
    Es war noch nicht einmal sieben Uhr. Dem kleinen Hotelstadtplan entnahm er, daß es zum Veranstaltungsort maximal zehn Minuten zu Fuß waren. Er war froh, auf Sabines fürsorgliches Abholen verzichtet zu haben. Sabine war ein Problem. War sie vor zehn oder elf oder zwölf Jahren, als er sie kennengelernt und bald darauf ein zweites Mal getroffen hatte, nicht auch eine Möbelprospektschönheit gewesen? Jetzt war sie allerhöchstens vierzig. Viktor verbat sich den grausamen Gedanken, sie sei auch nicht jünger geworden. Diese Feststellung war gemein, und er wollte sie nicht zulassen, obwohl es aussichtslos, fast albern war: als würde man mit aller Kraft eine Tür zuhalten, um das Eindringen einer Wasserflut zu verhindern. Die verlorengegangene Anziehungskraft durfte mit dem Älterwerden nichts zu tun haben. Es war zu hoffen, daß die Erinnerung an ihre erste Begegnung die nötige Menge der alten Anziehungskraft mobilisieren würde, um die Nacht durchzustehen.
    Wie konnte Sabine davon ausgehen, daß es noch so war wie damals? Normalerweise waren es die Männer, die, überzeugt von ihrer gleichbleibenden Attraktivität, in Hotels Liebesnester bestellten, um dann fassungslos die Worte zu hören: »Du, es liegt nicht an dir, aber es ist einfach nicht mehr so wie früher.« Ein einziges Mal war Viktor das passiert. Auf der Stelle hatte er sich abgewöhnt, an Wiederbegegnungen auch nur die geringsten erotischen Erwartungen zu knüpfen. Wenn es noch funkte, empfand er es dankbar als ein Wunder, wenn nicht, war es ein willkommener Anlaß, sich ein paar heitere Gedanken über die Vergänglichkeit der Lust zu machen.
    Daß seine Lust so sehr an schmale lange Beine und den dazugehörigen Hintern gebunden war, beleidigte ihn. Es war keine Kunst, für Frauen mit idealen Figuren zu schwärmen. Jeder tat das. Viktor hätte gern die Größe gehabt, Frauen mit unperfekten Körpern begehrenswert zu finden. Begeistert sein von breiten Hüften, verliebt krumme Schultern, dünne Haare und schlaffe Oberarme streicheln und den verfluchten Körperkult und das Modediktat und den Jugendkult zu verlachen – das wäre nach seinem Geschmack gewesen, doch leider war er einer von Zigmillionen gewöhnlicher Männer mit einer Zigmillionenvorliebe für die üblichen schlanken und ranken, sonnengetönten und schönschultrigen Beauties, wie sie als Stars die Cover von Frauen- oder

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