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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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hätte Penelope gegenüber ein dummes Gefühl, wenn er jetzt so kurz vor dem Ziel aufgeben und nicht Wort halten würde.
    Er stellte die Skier ab und machte sich daran, im Felsen einen Weg nach oben zu finden. Es waren keine allzu großen Kletterkünste nötig. »Sehr geübte Bergsteiger können beim Gipfelanstieg auf das Seil verzichten«, stand in der Tourenbeschreibung. Viktor war nicht sehr geübt, aber er war trotz aller Skepsis noch immer sehr verliebt, und Liebe verlieh auch Kräfte und vor allem Lebenswillen. Verliebte hängen auch ohne Seil am Leben, sagte er sich. Verliebte konnten schon deswegen nicht abstürzen, weil das eine zu billige Lösung war. Nur in Filmen, die zu dumm waren, sich ein Happy-End einfallen zu lassen oder in denen alte Untaten gesühnt werden mußten, kamen Verliebte zu Tode.
    Nachdem Ellen die Tscherkessin in eine Freundin des Hauses verwandelt hatte, waren ab und zu deren halbwüchsige Kinder in der Züricher Wohnung aufgetaucht, und der aus Prinzip kinderlose Viktor konnte die nachwachsende Generation studieren. Die Tscherkessin hatte Zwillinge mit den sinnigen Namen Nora und Aron. Mit ihnen fernzusehen war aufschlußreich. Sie wußten: Wenn in einer Billigserie eine Frau schwanger war und der begeisterte Vater überall herumerzählte, wie er sich freute, dann war die Schwangerschaft aus dramaturgischen Gründen gefährdet. In der Folge, die Viktor mit Nora und Aron gesehen hatte, gab es nach dem Freudentanz des künftigen Vaters in seinem Büro eine Einstellung, in der die glückliche Schwangere beim Autofahren zu sehen war. Die tscherkessischen Zwillinge sagten: »In spätestens sechs Sekunden knallt es.« Und tatsächlich, ein Müllauto scherte aus und es knallte. Schluß mit der Schwangerschaft.
    Dieser Fall zeigte zweierlei: daß erstens die Jugend vom Anschauen solchen Unsinns hellsichtig geworden war und daß zweitens Unfälle ein Produkt der Einfallslosigkeit waren. Daß auf Glück Unglück logisch zu folgen habe, war eine so primitive Faustregel, daß im Umkehrschluß der untragische Ausgang sehr viel wahrscheinlicher war. Dieser Gedanke machte Viktor so sicher, daß er sich für unverwundbar hielt.
    Die Nebelfetzen wurden dichter. Es wurde rasch auch immer kälter, beißend kalt war es mit einem Mal, und die Sicht betrug nur noch wenige Meter. Tourenbeschreibungen warnten vor der dünnen Luft. Die Luft aber war nicht Viktors Schwierigkeit, sondern die Sicht. Viktor wurde es ziemlich bald klar, daß vor schlechter Sicht nicht gewarnt wurde, weil ein Aufstieg bei schlechter Sicht gar nicht in Frage kam. Dennoch kämpfte er sich in einer Art blindem Gehorsam seinem eigenen Versprechen gegenüber weiter bergauf, man mußte es tatsächlich einen Kampf nennen, es war ein Kriechen und Krauchen und Robben und Krabbeln jetzt, und Viktor war froh, daß er allein war und niemand seine würdelose Fortbewegung beobachte.
    Nach einiger Mühe erreichte er den Gipfel. Es mußte der Gipfel sein, denn hier waren gespannte Stahlseile, die eine Stange hielten. Vermutlich war es der Mast des Gipfelkreuzes. Bei dem Nebel konnte man nicht einmal bis zum Querbalken hochsehen. Die dichte Wolkensuppe trübte das Licht, es war dunkel, als wäre es schon spät. Es war aber kurz vor zwölf, und Viktor hatte das Wohlgefühl, eine absurde Aufgabe pünktlich gelöst zu haben, die ihm eine kapriziöse Prinzessin gestellt hatte. Er suchte einen Platz, wo er sich bequem niederlassen konnte. Einen solchen Platz gab es nicht. Man konnte nur unbequem kauern. Plötzlich wurde ihm schwach und schlecht vor Hunger, er verschlang ein Stück Schinken und hätte gerne noch mehr davon gehabt.
    Jetzt wo er sich nicht mehr bewegte, wurde es empfindlich kalt. Der Nebel kroch in die Haare, die unter der Kapuze hervorkamen, und fror dort an. Augenbrauen, Wimpern, Bartstoppeln, alles steif und gefroren. Fühlte sich an wie Draht. Viktor dachte an das Foto. Mit vereisten Augenbrauen wäre es noch wirkungsvoller. Er war aber jetzt zu erschöpft, die Kamera auszupacken. Zudem hätte das Foto ohne das Monte-Rosa-Panorama wenig Beweiskraft. Es hätte auch in einer Kühltruhe aufgenommen worden sein können. In einer Kühltruhe würde sich Viktor kaum weniger verloren und fehl am Platz fühlen wie hier, auf dem zweithöchsten Gipfel der Alpen, im absolut Unsichtbaren.
    Die Schutzkleidung bewährte sich. Schlimmer als Frost war die Stille und die fehlende Sicht. Der Mangel an Kalorien, die Kälte und das Kauern machten ihm

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