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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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allmählich zu schaffen. Nannte man das »Unbill«, was ihm hier widerfuhr? Wo kam das Wort »Unbill« her? Unbill schwächte nicht nur Viktors Körper, sondern auch seine Vorstellungskraft. Das war das Unheimliche. Auf seine Vorstellungskraft konnte sich Viktor normalerweise verlassen. Sie hatte bisher noch nie versagt. Wann immer Unbill ihn zu quälen drohte, schaltete er sein Vorstellungsvermögen an wie andere Menschen den Fernsehapparat. Wunderbar ließ sich so die Zeit vertreiben. Ob lange Autofahrten mit Staus, Zugreisen mit unausstehlichen Sitznachbarn, sich endlos verzögernde Anschlußflüge oder früher, in der guten alten Zeit, als die Ärzte und Friseure noch keine Termine vergaben, die Illustrierten in den Wartezimmern durchgeblättert waren und man noch weitere Ewigkeiten auf das Drankommen harrte – immer half die Imagination. Einszweidrei hatte Viktor eine begehrenswerte Frau aus seiner Erinnerung geholt und gab sich der Phantasie hin, die seine augenblickliche Laune oder sein Hormonspiegel bestimmte. Penelope würde nicht kommen. Er wollte sich das wenigstens vorstellen – aber es gelang nicht, wegen der eisigen Kälte. Die Kräfte der Einbildung und des Ausmalens schöner Szenen waren erstarrt und gelähmt hier oben. Das nahm Viktor dem Berg übel. Kein Steinbock war so dumm, so hoch hinaufzuklettern. Nie wieder!

    Erfrieren sollte ein angenehmer Tod sein, aber das Frieren ging ihm voraus, und das fing an, unausstehlich zu werden. Die Liebestod-Phantasie, mit der sich Viktor selbst bei heftigen Zahnschmerzen einigermaßen ablenken konnte, gelang ihm nicht, so sehr er sich auch bemühte, die Bilder kamen, aber ohne Wirkung: Das Paar umschlingt sich in luftiger Bergeshöhe – und wortlos ist klar, daß keiner ohne den anderen leben kann. Die Zeit der Kompromisse ist vorbei. Sie würden, wenn sie ins Tal und damit ins Leben zurückkehrten, alles zerstören und bald selbst zugrunde gehen. Penelope würde keinen Sinn mehr darin sehen, den Menschen Italienisch beizubringen, und Viktor würde keine Romane mehr schreiben. Ihre Liebe würde nach einiger Zeit erlöschen. Dann lieber gleich Selbstzerstörung. Penelopes äthiopische Langstreckenläuferinnenarme sind fest um Viktor gewickelt. »Komm, mein Viktor, komm!« Ihre Augen sind groß, keine Träne darin. So soll es bleiben, so wie jetzt, für immer und ewig, das ist klar. Keine Trennungen und Scheidungen im Tal, kein zermürbendes Ehepaar-Erklärungsgestotter à la »Du, ich kann nicht anders…« Nie mehr solches Gestammel. »Komm, Viktor, komm«, flüstert sie lächelnd, und er sagt: »Du umärmelst mich ja.«–»Ja«, sagt sie, »das ist die Umärmelung«, und bewegt sich einen halben Schritt Richtung Abgrund. Da weiß Viktor, was sie will, und was zu tun ist. »Ja«, flüstert sie lächelnd. Sie will es, er will es, so soll es denn sein. Noch ein winziger Schritt, ein Kippen und dann der Fall, und eng umschlungen so lange wie möglich geht es dahin und hinunter ins ewige Glück. Die sauberste Lösung. Kein Zögern, kein Aufschub, sondern die günstige Gelegenheit ergreifen. Kein Buch erst noch zu Ende schreiben, keine Papiere ordnen, keine Abschiedbriefe vorbereiten. Alles offen und angefangen lassen. Egal, ob die Nachwelt an einen Unfall oder eine Verzweiflungstat glaubt oder an das, was es ist: ein Liebestod. Sollten die Lebenden das tun, was die Menschen auf Erden immer tun: rätseln und spekulieren. Vielleicht würde man Penelopes zerlesene Briefbotschaften in Viktors Hosentasche finden. Ellen kannte ihn. Urs würde seine zahllosen Briefe an Penelope finden. So viele. Eine ganze große Kommodenschublade voll. Da würden sie auch ohne großen Abschiedsbrief wissen, daß diesem Paar auf Erden nicht mehr zu helfen gewesen wäre.
    Es gelang Viktor nicht, sich an solchen ergreifenden Vorstellungen zu laben. Zu schwach war ihm vor Kälte und nun auch vor Hunger. Er hatte nicht genug zum Essen dabei. Kurz vor dem Aufbruch zur Tour in Zürich hatte er unbedingt in aller Eile noch eine Musikkassette zusammenstellen müssen und dabei ganz vergessen, das empfohlene kalorienreiche Hochgebirgsspezialkraftfutter zu besorgen, was ihm auch zu affig gewesen war. Die Leute waren vor fünfzig Jahren auch ohne solche Kalorienbomben auf die Berge gestiegen. Stundenlang hatte Viktor wieder einmal mit Platten und CDs hantiert, denn sollte Penelope tatsächlich kommen, dann würden sie vielleicht zusammen in seinem Auto nach Zürich zurückfahren. Eine

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