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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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wirklich schiefgehen sollte. War ja doch erstaunlich, wie viele Tote es jedes Jahr in den Bergen gab.
    Barbara und Thomas, Hanna und Carlos umstanden unter Anleitung von Ellen die Hochgebirgsausrüstung, die Viktor in der Wohnung ausgebreitet hatte. Knallbunt alles, damit man leichter gefunden wird, wenn einen Lawinen verschütten. Ellen hatte die bergerfahrene Penelope hinzubitten wollen. Es war für Viktor nicht leicht gewesen, das zu verhindern. Schade, daß die Erzählung schon fertig war. In der Erzählung wäre die Anwesenheit der von dem Ehepaar gemeinsam verehrten Bergsteigerin am Abend vor dem Aufbruch ein delikater Kick gewesen: Er kann der begehrten Braut eines anderen nicht ansehen, ob sie seine Besteigungsbriefstelle überhaupt wahrgenommen hat oder nicht, ob er sie in einigen Tagen auf dem Berg sehen wird oder nicht. Schön zu beschreiben, diese Unsicherheit. In Wirklichkeit aber wäre Viktor einer jetzt anwesenden Penelope nicht gewachsen gewesen.
    Von den wirklich anwesenden Frauen bekam Viktor folgende Sätze zu hören: »Jetzt dreht er durch!« Und: »Er muß immer übertreiben!« Aus Barbaras Mund kam sogar Penelopes Wort: »Total durchgeknallt!« Sekunden später wurden die Ehemänner Thomas und Carlos von ihren Frauen ermahnt: »Schneidet euch eine Scheibe von Viktor ab, ihr Dickbäuche!«
    Das Abendessen nannte Viktor »Henkersmahlzeit«. Als er gebeten wurde, den wahren Grund für seine Expedition zu nennen, las er einen Satz aus einem Nazi-Bergbuch vor, das ihm die Tscherkessin geschickt hatte: »Der deutsche Mann stählt in den Bergen seinen Geist und Körper und überwindet alles Undeutsche in sich.«
    »Schon gut«, hieß es, »bessere Ausreden bitte.«
    »Roman«, sagte Viktor, »Recherche. Meine Helden müssen mal raus, sie bewegen sich zuwenig.«
    »Langweilig«, hieß es, »einen anderen Grund.«
    »Ich plane einen Essay über den Masochismus«, sagte Viktor: »Endorphine oder das Glück des Sichschindens.«
    Die anderen winkten ab.
    »Cherchez la femme«, sagte Viktor.
    »Angeber!« sagte Ellen.
    Barbara als Schweizerin kannte sich im Gegensatz zu Ellen in den Alpen aus und konnte besser sticheln: »Ich wundere mich«, sagte sie, »daß du statt des Monte Rosa nicht den Gran Paradiso gewählt hast, auch ein stattlicher Berg, aber ein vielversprechenderes Plätzchen für einen liebestollen Dichter.«
    »Du weißt doch, daß man aus dem Paradies verjagt wird, das wollte ich vermeiden«, sagte Viktor und probierte, wie man die Steigeisen an den Schuhen befestigte.
    Sie alle inklusive Ellen hätten den Kopf geschüttelt, wenn er ihnen gestanden hätte, daß er tatsächlich die winzige Spur einer Hoffnung hatte, Penelope könnte seinen Ruf gehört haben und ihm gefolgt sein, und daß dieses winzige bißchen Hoffnung genügte, um ihm reichlich Energie für die enormen Strapazen dieser Tour zu geben – daß also tatsächlich nichts anderes als das »Cherchez la femme« hinter der aberwitzigen Unternehmung stand. Das durften nur Ohren hören, die für den Wahnsinn etwas übrig hatten. Sie alle hier hätten Viktor für umnachtet erklärt, wenn er die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit ausgesagt hätte: »Ich, Viktor Goldmann, vierundvierzig, nicht vorbestraft, nicht tablettenabhängig, habe im Januar unter dem Einfluß von einem Liter schnell in mich hineingetrunkenen Wein einen Brief an die achtundzwanzigjährige Italienischlehrerin Penelope Wagner geschrieben, in dem ich erwähne, daß ich mich am 8. Mai um zwölf Uhr Mittags auf dem Gipfel des Monte Rosa einfinden werde. Obwohl diese Bemerkung beiläufig und nicht im Zustand der vollen Zurechnungsfähigkeit gemacht wurde und obendrein in einem weitgehend fiktivem Zusammenhang steht, hat sie für mich den bindenden Charakter einer ehrenwörtlichen Zusage. Ich bin daher nicht von meinem Vorsatz abzubringen und werde morgen früh Zürich Richtung Lausanne verlassen.«

    Der Monte Rosa war ein unwirtliches Monstrum aus Fels und Eis und paßte nicht zu der lieblichen Verträumtheit von Viktors Penelope-Visionen, die sich im behaglichen Vegetationsbereich abgespielt hatten. Der Duft des Bergwalds sollte noch in der Luft liegen, das Läuten der Kuhglocken von den Almen herauf noch zu hören sein. Mehr ein Schlendern mit Penelope war das gewesen, was er herbeisehnte: sich ab und zu nach Walderdbeeren am Rand des Wegs bücken und sich mit den süßen Früchten gegenseitig füttern – und kein fanatisches Ansteigen und Schleppen eines

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