Der Liebessalat
sich, aber romantisch genug. Vor allem wäre sie weniger ungemütlich als die auf der grimmigen Felsspitze. Die Nothütte aber existierte entweder nicht mehr, oder sie war im Mai noch mit Schnee bedeckt. Viktor blieb nichts anderes übrig, als die Haupthütte anzusteuern, wo er sich zwischen den treuherzigen Tourengängern fremd vorkam. Er heuchelte Erfahrung und ließ sich von dem Bergführer einer kleinen Gruppe erklären, auf welchem Weg man am morgigen Tag am besten den Gipfel erreichen könnte. »Die meisten gehen morgens um drei los«, sagte der Bergführer und musterte Viktor derart wortkarg, daß dieser nicht wußte, was der Alpinist damit sagen wollte: daß der unerfahrene Viktor lieber etwas mehr Zeit einplanen solle oder daß es bei Viktors bombiger Kondition genüge, wenn er zwei Stunden später aufbreche?
Viktor ging ins Matratzenlager und suchte sich einen Platz zwischen den Schläfern. Die wenigen kurzen Briefe, die er von Penelope besaß, trug er bei sich, ein Pfand, ein Talisman, ein Ausweis, eine Legitimation, ein kostbares Beweisstück, daß er nicht übergeschnappt war. »Die Gazelle springt vor Freude, wenn der Steinbock mit Post kommt.« Das hatte er schwarz auf weiß, beziehungsweise grün auf orange. Das klein zusammengefaltete, flachgedrückte Kuvert in seiner Hosentasche zu fühlen, gab ihm Zuversicht.
Gegen zehn Uhr hörte er, wie ein Spätankömmling die Hütte betrat. Obwohl er sich bereits mit dem Gedanken abgefunden hatte, Penelope auf dem Monte Rosa nicht zu begegnen, suchte ihn sofort die Hoffnung heim, dies könne sie sein, die jetzt gleich in den Schlafraum käme, langsam an der Matratzenreihe vorbeiginge und leise seinen Namen flüsterte: »Viktor? Viktor?«–»Hier bin ich«, hörte er sich schon leise zurückrufen, und schon käme sie und legte sich zu ihm. Wieder bekam Viktor nasse Augen vor Glück bei dieser Vorstellung. Das mit den nassen Augen war relativ neu, das war erst ab vierzig gekommen. Die Arme vor der Brust gekreuzt, griff die linke Hand die rechte Schulter und die rechte Hand die linke – und als er in den Schlaf hinüberglitt, hatte er wieder einmal das Gefühl, als wären es Penelopes Hände, die seine Schultern faßten.
Mitten in der Nacht gegen ein Uhr wachte er auf und erhob sich sofort. Bloß kein Hüttenmorgen mit sich räkelnden und kameradschaftlich sich gegenseitig Tee anbietenden Bergsteigern und Fachsimpeleien über Skibindungen und die angeblich nötigen Lichtschutzfaktoren von Sonnencremes. Er aß einen kleinen Apfel, verließ die Hütte und fühlte sich frei und jung. Der Himmel war bewölkt, aber nicht zugezogen. An einzelnen Stellen gab es einen Durchblick zu den Sternen, und es lag genug Schnee, der für ausreichend Helligkeit sorgte. Je höher er kam, desto weißer wurde es. Der Schnee war so frühmorgens noch hart gefroren, man konnte darauf bequem gehen wie auf Asphalt.
Gegen halb fünf wurde es hell. Keine Sonne, kein Loch in der Wolkendecke. Der Gipfel war frei, aber schlechter durfte das Wetter nicht werden. Penelope würde nicht kommen. So viel war klar. Sie hätte in der Hütte sein müssen. Die Gewißheit tat Viktor nicht weh. Ein bißchen verrückt sein hoher Einsatz, aber da war kein Gefühl, verloren zu haben. Der Gipfel mußte jetzt nur noch sein, um ein Foto von sich selbst zu machen. Mit der Zeitung von gestern in der Hand, als Beweis. Das würde er ihr in einem angemessenen Abstand nach der Hochzeit zukommen lassen. »Flop on the top« würde er draufschreiben und ihr verraten, daß er damals wirklich ein bißchen mit ihrem Kommen gerechnet hatte. Spätestens dann würde sie ihn umarmen oder umärmlen müssen.
Es gab kein großes Glück und keine große Liebe. Deswegen rasch rauf auf die Spitze, ein paar Bilder knipsen, dann nichts wie runter ins Tal des Lebens zur heimeligen Infrastruktur. Im Auto sitzen, Musik hören, nach Zürich fahren, Fotoladen, Bilder machen lassen – und weiter um das kleine Glück und die kleine Liebe kämpfen.
Gegen zehn Uhr wurde das Wetter deutlich schlechter. Der Gipfel war jetzt gelegentlich in Wolken. Unten sah Viktor die anderen Bergsteiger stehenbleiben und sich beraten. Sie waren zwei Stunden zurück, aber gut sichtbar. Er ging weiter. Er war jetzt vollkommen allein hier oben. Es sollte genügen, wenn er sich mit der Gipfelspitze im Hintergrund fotografierte. Wozu noch eine gute Stunde dort hinaufklettern? Etwas sinnlos, wenn man keine Aussicht hatte. Etwas gefährlich wohl auch. Aber er
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