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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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konnte er kaum sprechen, so kalt war sein Kiefer.
    »Stambecco? Stambecco?« Es war offenbar eine Frage. Viktor verstand nichts. Er verstand, wie man so sagt, nur Bahnhof, und es war derart unwirklich hier oben, daß er den ohnehin schon unerklärlichen deutschen Ausdruck »Ich verstehe nur Bahnhof« in ein noch unerklärlicheres Italienisch übersetzte: »Io capisco soltano stazione«, sagte er, kicherte in sich hinein über den sprachlichen Blödsinn und hatte jetzt ein bißchen Angst, zwar nicht tot, aber übergeschnappt zu sein.
    Die Gestalt im Nebel lachte auch. Das Lachen erinnerte ihn an Ira. Die Lage war noch immer höchst unklar. Möglicherweise war er tatsächlich am Sterben, und nun würden der Reihe nach die Frauen seines Lebens auftauchen und ihn auslachen. Als nächste würde Ellen kommen und ihm sagen, daß er es nicht anders verdient habe, als hier oben abzutreten. Wer ihrer Italienischlehrerin nachsteige, habe kein anderes Los verdient. Als die Gestalt im Nebel ausgelacht hatte, sagte sie plötzlich: »Hey Vittore, stambecco, sono la gazzella delle alpi, sono la tua antilope, sono Penelope.«
    Sie war es. Weil eingemummt in eine unförmige Daunenjacke, hatte Viktor sie nicht erkannt. Die geraden Schultern waren nicht sichtbar, die lässig äthiopisch schwingenden Arme noch weniger, der süße Kopf war in einer gewaltigen Kapuze versteckt. »Stambecco« hieß Steinbock. Das hatte er nicht gewußt.
    Er versuchte aufzustehen und torkelte. Sie stützte ihn. »Nicht«, sagte er, weil er sich alt und gebrechlich vorkam.
    An einen Abstieg war bei diesem Nebel nicht zu denken. Sie tasteten sich langsam und vorsichtig tiefer und suchten nach einem geeigneten Biwakplatz. »Ich hab es geahnt«, sagte Penelope mehr zu sich selbst als zu Viktor, »dieser durchgeknallte Typ geht natürlich auch bei so einem Wetter hier hoch. Was hast du mir da eingebrockt, Mann! Was, wenn dieser Scheißnebel nicht verschwindet, he?« Sie war ernsthaft verärgert.
    »Du siehst aus wie eine Zollbeamtin«, schimpfte Viktor. Ein hilfloser Versuch, sie abzulenken. »Ich dachte erst, da will mich wer wegen Sambuco-Schmuggel verhaften.«
    Sie ging nicht auf seine Witze ein. »Du spinnst echt, Viktor!« Sie war wütend und boxte ihn: »Nur ein Idiot geht bei so einem Wetter hier hoch! Du hast keine Ahnung. Du realisierst gar nicht, daß das der Wahnsinn ist hier.« Sie versuchte ihm klar zu machen, daß er sich in Lebensgefahr begeben hätte. »Immer dieser Leichtsinn der Leute!« Sie sprach vollkommen bergführerinnenhaft.
    »Ich wollte doch nur mein Wort halten«, sagte Viktor.
    Schließlich hatte Penelope eine Stelle gefunden, wo sie schlecht und recht auf besseres Wetter warten könnten. Sie war etwas versöhnt, daß er seinen eigenen Biwaksack dabei hatte. Sie hatte schon befürchtet, sie müßte ihn zu sich in ihren Sack nehmen. »Das ist die Hölle«, sagte sie, »einer schwitzt, einer friert, man drückt kein Auge zu.«
    Dann kauerten sie nebeneinander blind in ihren Säcken. Es wurde Nacht. »Unsere erste Nacht habe ich mir anders vorgestellt«, sagte Viktor, »das ist ja pränatal hier, ich komme mich vor wie ein Küken im Ei«–»Genau«, sagte sie, »und morgen früh schlüpfen wir, morgen früh kommen wir auf die Welt.« Mitten in der Nacht wachten sie auf. »Schau mal raus«, sagte sie. Er öffnete den Sack. Neben ihm lugte Penelopes Kapuzenkopf. Ein überwältigender Sternenhimmel. Keine Wolke. »Morgen wird es schön«, sagte sie. »Morgen möchte ich deinen Kopf ohne Kapuze sehen«, sagte er. Plötzlich fiel ihm ein, daß er eine kleine Flasche Wein dabei hatte. Eigentlich zum Sterben. Wenn er in eine Gletscherspalte gefallen wäre, hätte er nicht nüchtern erfrieren wollen. Sie tranken den Wein. Weißwein. Eiskalt und doch wärmend. Dann tauchten sie noch einmal in ihre Säcke, kicherten albern und schliefen noch einmal ein.
    Vor fünf ging die Sonne auf. Keine Wolke war am Himmel. Viktor kroch aus seinem Sack, der vom Kondenswasser innen naß und außen halb gefroren war. Draußen war es eiskalt. Ein Naturfreund hätte den Anblick des Alpenpanoramas überwältigend gefunden. Viktor war es zu winterlich. Unter Mitte Mai stellte er sich etwas anderes vor. Er tastete nach Penelope in ihrem Sack und schüttelte sie sanft: »Steh auf und zeig dich«, sagte er, »Schluß mit der pränatalen Phase.« Sie bewegte sich. Sie rumorte schweigend in ihrer dünnen roten Schale. Es erinnerte Viktor an eine Geburt. Dicht neben ihm

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