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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph von Westphalen
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und noch unsichtbar regte sich die Frau, die seit Monaten seine Phantasie beherrschte. Die Öffnung des Biwaksacks wurde langsam größer, ein dunkler Haarschopf kam zum Vorschein, und wenig später schlüpfte Penelope aus ihrer Schutzhülle und streifte die außen vereiste Haut ab und schaute Viktor an, so vertraut, als hätten sie schon hundert Mal zusammen so in den Bergen genächtigt. Es gefiel ihm, wie dieser große Augenblick sofort zu einem völlig normalen wurde. Sie fettete sich mit einer Pomade die Lippen und reichte Viktor die kleine Salbentube: »Willst du?« Er wollte. Ihre Lippen waren überraschend voll in ihrem mageren Gesicht. Ihre Augen immer noch bernsteinfarben. Sie breitete die Arme aus – und schlug sie dann um ihren Oberkörper zusammen, mehrmals, um sich zu wärmen und zu lockern. »Komm«, sagte sie dann und packte zusammen. Das war kein Ort für die Liebe hier. Sie war eine Komplizin, eine Kameradin. Wo hätte sie springen sollen wie eine Gazelle? Wo tanzen wie eine Antilope? Ihre Schritte waren groß und bedächtig.
    Sie rüsteten sich. Für den Abstieg vom Gipfel mußten sie Steigeisen anlegen. Sie halfen sich. Die Eisen klirrten wie Ketten. Dieses Geräusch und das konzentrierte Festzurren der hakigen Eisen an den Schuhen erinnerten ihn an die Fesselungen, die mit Susanne dilettantisch durchgeführt, mit Ira erwogen und mit der Tscherkessin exzessiv phantasiert worden waren. Obwohl solche Praktiken mit Penelope nicht vorstellbar waren, obwohl er sie in Gedanken mit nichts anderem als seinen Armen umschlungen hatte, empfand er das Präparieren der Schuhe, das fürsorgliche Spannen der Gurte, dieses wechselseitige Prüfen des festen Sitzes der Eisen am Schuh des anderen plötzlich als eine Handlung der Liebe.
    »Was hast du?« fragte sie.
    »Sexy«, sagte er und deutete auf den mit bizarren Dornen präparierten Schuh. Und als ihm einfiel, welche seltsamen Männer welchen seltsamen Frauen welche seltsamen Schuhe küssen mochten, mußte er lachen. Er hielt ihren Schuh und lachte ihn an und küßte ihn. Mit diesem nicht sehr eleganten Bergschuh war die Liebe zurückgekehrt. Bisher war das alles sehr kameradschaftlich gewesen hier oben. Weiter unten würde er hoffentlich Penelopes Gazellenknie küssen, später dann ihre Gazellenschultern und schließlich ihr schönes Gazellenmaul.

    Das viele Eis, der viele Schnee überall, und das im Mai. Das Ungetüm von Rucksack machte Penelopes Schritte groß und schwerfällig. Sie schwiegen viel, einträchtig zwar, obwohl es doch viel zu reden gegeben hätte. Es waren karge Worte, die sie wechselten. Die Beredsamkeit der Briefe wollte sich nicht einstellen. Viktor klagte darüber. »Wir sind noch zu hoch«, sagte sie.
    Viktors letzten, nunmehr fast vier Monate alten Brief, hatte Penelope durchaus als Angebot zu einem Treffen verstanden. So einen verrückten Vorschlag hatte ihr noch nie jemand gemacht. Noch nicht einmal Urs. Wahnsinn. Durchgeknallt. Klasse. Super. Er hatte gefiebert, für sie war es ein Kick.
    »Für dich doch auch«, sagte sie.
    »Ich hatte mir große Hoffnungen gemacht«, sagte er.
    Ihr Lachen erinnerte noch immer an das Lachen Iras.

    Viktor mußte sich zwingen, nicht dauernd zu sprechen. Er hatte das Gefühl, Penelope könne ihm entgleiten, wenn er sie nicht ständig mit seinen Worten an sich band. Andererseits genoß er aber auch seine Unsicherheit, weil sie um mindestens zwei, wenn nicht drei Jahrzehnte verjüngte. Das gehörte dazu, zur Liebe, daß man schwieg – ohne sich gleich vorzukommen wie ein Paar, das sich nichts mehr zu sagen hatte. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. In drei oder vier Wochen würde sie ihren Urs heiraten. Viktor fand das richtig, er fand es köstlich, amüsant, romantisch. Es erhöhte noch den Wert ihrer Begegnung. Aber zwischendurch schnitt und stach es. Es war wie der Schnitt oder der Stich eines scharfen Messers, der zunächst kaum zu spüren ist, aber man weiß, der Schmerz wird noch kommen. Das Schlimmste war die Angst. Viktor hatte vor nichts Angst. Nicht vor dem Ozonloch, nicht vor Atomkraftwerken, Weltkriegen, Flugzeugabstürzen, Klimakatastrophen, Terroranschlägen – er war vollkommen fatalistisch und egoistisch der Ansicht, mit einiger Wahrscheinlichkeit werde ihm nichts passieren. Mit ein Scheidungsgrund der Ella-Ehe. Unerträglich hatte Ella diese Haltung gefunden. Deswegen gehe es ja dahin mit dem Globus, weil alle so dächten. Viktors Antwort: Wäre den Leuten ihr privates Wohl- und

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