Der Liebessalat
Sie hatte ihre gute Figur verloren und war eine nette Buchhändlerin, die jetzt an der Kasse stand und sich freute, daß die Veranstaltung, die sie organisiert hatte, ausverkauft war. Ein paar Stühle wurden noch herbeigebracht, der Beginn akademisch auf Viertel nach acht verschoben. Viktor hatte keine Lust, gleich als Vorleser anzufangen, er wollte erst mit dem Publikum vertraut werden und begann die Geschichte von der erfundenen lila Lederhose zu erzählen, die eines Tages Wirklichkeit geworden war. Sabine saß in der ersten Reihe und freute sich. Die lila Lederhose war längst in einen von Viktors Romanen eingegangen. Sie kannte die literarisch ausgeschmückte Episode, in der sie Sabina hieß und Frau eines Augenarztes war und in Nürnberg wohnte. Sabine freute sich sichtlich, sie spürte, daß Viktor ihr damit nahekommen wollte. Sie spürte nicht, daß ihm das nicht gelang, daß er sich eher von ihr entfernte.
Während er sprach, wanderte sein Blick durch das Publikum, und schon hatte er sein Gesicht des Abends gefunden und wählte es zum Fixpunkt, an den seine Augen immer wieder zurückkehrten. Vergessen waren die lila Lederhosen, von denen er erzählte, vergessen war Bettina, vergessen Susanne – Ira war nicht vergessen, denn an Ira erinnerte ihn die südliche Frau, eine Türkin vielleicht oder eine Windsbraut aus dem Kaukasus. Sie hörte ihm ausdruckslos zu, reagierte nicht auf sein Lächeln, so daß er sich fragte, ob sie überhaupt Deutsch verstand. Er flocht Pointen in seine Geschichte, die Leute lachten, nicht aber die Kaukasierin, die vielleicht eine Tscherkessin war und die er nach der Lesung unbedingt fragen mußte, wo sie herkam. Viktor wunderte sich, daß man eine Geschichte erzählen und dabei an etwas anderes denken konnte. Nur zwei Gesichter im Publikum blieben ausdruckslos: das der Tscherkessin und das einer älteren Dame, die plötzlich ihre Stimme erhob und sehr laut und hochdeutsch dazwischenrief: »Das hier ist eine Lesung, keine Erzählstunde!« Großes Gelächter angesichts dieser Mahnung. Viktor versicherte, er werde noch lesen, wenn er die Geschichte zu Ende erzählt habe, mit der er zeigen wolle, wie Literatur und Wirklichkeit verflochten seien. Und erzählte weiter, wie er vor Glück fast ohnmächtig zu werden glaubte, als er diese unglaublich laszive Hose, die er sich ausgedacht hatte, in Nürnberg tatsächlich zu sehen bekam. »Das ist eine Lesung!« rief die Alte abermals starr und streng, und abermals gab es großes Gelächter. Das Publikum wollte Viktors Erzählung zu Ende hören. Nach der dritten Mahnung wurde das Zetern der Alten langsam störend und Viktor fragte sie, ob sie eine Achtundsechzigerin sei und früher Vorlesungen gesprengt habe. Das verstand sie nicht. »Ich bin siebenundsiebzig«, sagte sie stolz. Nach dem Gelächter sagte Viktor, jeder Dichterdepp lese aus seine Büchern vor, was die Leute schließlich auch zu Hause lesen könnten, er erzähle lieber, wie seine Bücher entstanden seien, anstatt brav Zeile für Zeile entlangzumümmeln – und normalerweise habe das Publikum daran nichts auszusetzen. Für diese Erklärung erhielt er erneut Beifall, der die Alte aber nicht davon abhielt, auf einer Lesung zu bestehen, so daß ihr Viktor nahelegte, einfach zu gehen, wenn es ihr nicht gefalle. Sie denke nicht daran, sagte sie, sie habe schließlich Eintritt gezahlt. Sabine wurde nun unruhig und überlegte sich, ob sie als Veranstalterin eingreifen sollte, aber Viktor wollte den Kampf allein zu Ende bringen, nicht zuletzt weil seine Repliken der Tscherkessin zu gefallen schienen. »Wenn Sie gehen, zahle ich Ihnen den Eintritt höchstpersönlich zurück«, bot er nun an, und nachdem die Alte eine Weile hin und her überlegt hatte, arbeitete sie sich durch die Stuhlreihen zu Viktor vor und knallte ihm wie einen Trumpf die Eintrittskarte auf den Tisch. »Das Geld!« sagte sie. Viktor zückte sein Portemonnaie und zahlte sie aus, unter Lachen und Klatschen ging die Alte ab, und Viktor sah, daß nun auch die Tscherkessin lachte, und es wurde ihm klar, daß man an dieser Frau würde versengen können, wenn man das wollte.
Nach dieser Einlage gehörte Viktor das Herz des Publikums, doch es ging ihm nur um das Herz der Tscherkessin, die er beim Vorlesen nicht beobachten konnte. Daher unterbrach er bald das Lesen aus seinem neuesten Buch, auf das er sich im Zug und im Hotel vorbereitet hatte, und verkündete, auch auf die Gefahr hin, weitere unzufriedene Gäste auszahlen zu
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