Der Liebessalat
seien in seinem Gewerbe ungewöhnlich, sagte er, auch das Gedichteschreiben sei für ihn ungewöhnlich, einmal im Jahr schreibe er eines, dies sei heute morgen der Fall gewesen, mit diesem angefangenen Gedicht, daß er sicher nie zu Ende schreiben werde, wolle er sich verabschieden. »Im Zug« könne man das Gedicht nennen, dort spiele es jedenfalls und es gehe ungefähr so:
Statt froh zu sein,
daß niemand weiß, wo sie sind,
geben die Männer an ihren Telefonen
unentwegt Positionsmeldungen durch.
Egal ob Frau oder Liebste –
alle müssen aus irgendeinem Grund gesagt bekommen,
daß man gerade zwischen und Kassel und Göttingen ist.
In der ersten Klasse
sehen alle Herren aus,
als machten sie Reklame für Handies und Laptops.
Auf ihren Bildschirmchen Tortengrafiken
wie nach Wahlen…
Dann doch noch der Trost des Tages:
Keine zweiundzwanzig Jahre alt ist sie. Stolz
und pfeilgerade die Nase
und ein silberner Ring darin.
Was für ein Gruß aus Busch und Steppe!
Ich wünschte auch meiner Nase einen Ring.
Mit einem Kettchen mit dieser Frau verbunden sein
und so mit ihr ans Ende der Welt…
Viktor merkte, daß das Gedicht zu mager war, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Kein guter Abschluß, aber ein verzeihlicher. Sabine vorne in der ersten Reihe erhob sich und drehte sich um. »Ich glaube«, sagte sie zu dem sich auflösenden Publikum, »weitere Dankesworte erübrigen sich. Wie schon die letzten beiden Male war die Lesung ein voller Erfolg. Vielen Dank, Viktor Goldmann. Wir gehen jetzt anschließend noch in den Ratskeller.« Wer den »Dichter zum Anfassen« haben wolle, fügte sie ironisch hinzu, könne gerne mitkommen.
Viktor erledigte Autogrammwünsche und kontrollierte aus den Augenwinkeln heraus die Tscherkessin, die keinerlei Anstalten machte, Viktor anzusprechen. »Gehen Sie mit?« rief er ihr zu. Sie tat wieder so, als verstehe sie nicht richtig, und sprach mit dem Mann an ihrer Seite ein paar Worte. »Es geht schon«, sagte sie dann, und es klang so, als meine sie: Wenn es denn sein muß. Sie sprach mit starkem Akzent, und Viktor hoffte, nur das mangelhafte Deutsch möge die Ursache für ihre lustlose Äußerung sein.
Im Lokal gelang es Viktor, neben der Tscherkessin zu sitzen, die ohne ihren Begleiter mitgekommen war. Kaum saß sie, brachte sie Viktor mit der Frage in Verlegenheit, wieso er als Autor solcher aparter Rechtsradikalenverhöhnungstexte in ein Lokal gehe, das einen deutschnationalen Geruch ausstrahle. Sabine, die für die Wahl des Lokals verantwortlich war, sah zu ihm hin, denn sie hatte wohl mitgehört, und Viktor wollte ihr nicht in den Rücken fallen. Obwohl er den Ekel der Tscherkessin sofort teilte, schluckte er den bequemen Satz: »Ich habe das Lokal nicht ausgesucht«, hinunter und sagte statt dessen: »In solchen Kneipen ist nicht viel los, da kann man sich wenigstens ungestört unterhalten, in den netteren, weniger deutsch wirkenden Orten sitzt die Jeunesse dorée und frühstückt bis nachts um elf multikulturell herum, und man versteht sein eigenes Wort nicht mehr.«
Sabine hatte mitgehört und wandte sich zufrieden der Bestellung zu. Die Tscherkessin akzeptierte die Antwort und sagte: »Meine Nase ist leider nicht so pfeilgerade wie die der Frau im Zug – und leider ohne Ring.«
Viktor hatte nun Gelegenheit, wie ein Experte das Profil der Tscherkessin zu betrachten, er konnte sich sogar erlauben, ihren Kopf anzufassen und ein wenig zu drehen. »Nicht so gerade, aber noch viel stolzer«, versicherte er und riskierte jetzt sein Geständnis: »Wissen Sie, daß mir den ganzen Leseabend lang Ihr Gesicht aufgefallen ist? Hundertfünfzig nette – aber doch eher stumpfe Gesichter«, sagte er jetzt sehr leise, »und da ist eines, das herausleuchtet. Ich weiß nicht, warum, ich mußte dauernd denken: Das ist eine Tscherkessin! Ich muß durch den Kaukasus reiten, dachte ich, und um die Hand der Tscherkessin anhalten. Leben die Tscherkessen überhaupt im Kaukasus?«
»Ich habe einen richtigen jüdischen Zinken, keinen tscherkessischen. Sie sind ein Träumer«, sagte sie.
»Eine wunderbare Nase!« sagte Viktor. »Ich würde Sie am liebsten ‘Tscherkessin’ nennen.«
»Dürfen Sie«, sagte sie und wirkte jetzt nicht mehr abweisend, »ist mal was anderes. Ich heiße normalerweise Rebecca und bin eine Jüdin aus Korsika, die es nach Deutschland verschlagen hat.«
»Rebecca…« Viktor sprach den Namen etwas übertrieben begeistert nach. Er kostete ihn förmlich:
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