Der Liebessalat
Umschlag, aber es fällt ihr ein, daß sie erst vor wenigen Tagen einen ähnlichen Umschlag mit Viktors neuem Buch bekommen hat, und sie denkt daran, wie oft ihr Viktor im Lauf der letzten Jahre seine neuen Bücher mit irgendwelchen Hinweisen zugeschickt und wie wenig sie darauf reagiert hat. Sie kommt sich schlecht vor und beschließt, gleich wenn sie zu Hause ist, Viktors neues Buch zu lesen und ihm zu antworten.
Iras Brief war noch nicht ganz zu Ende, doch Viktor hielt erst einmal inne und schloß die Augen, um sich nicht ohne Genugtuung die Situation zu vergegenwärtigen: Eine wildfremde Frau im Zug weckt in Ira Erinnerungen an früher, an sich selbst und an ihre Zeit mit Viktor. Ein wattierter Umschlag läßt sie an ihre Unart denken, ihrem ehemaligen Liebhaber und zweiten Ehemann Viktor nie auf seine unaufdringlichen Büchersendungen zu antworten. Von dem Erlebnis erweicht, beschließt Ira reumütig, Viktors Sendungen fortan zur Kenntnis zu nehmen und ihm auch zu schreiben. Das alles ergab soweit durchaus einen Sinn. Vollkommen unverständlich allerdings, wie die eher zurückhaltende und verschlossene Ira so aufgerüttelt sein konnte, daß sie Viktor ihre kurz zuvor gemachten Beobachtungen sofort und in dieser Ausführlichkeit miteilte. Das war nicht ihre Art. Es mußte noch etwas anderes geschehen sein, das sie dazu bewegt hatte.
Viktor trennte sich von seiner Phantasie einer geläuterten Ira und las weiter, mit langem Hals, den Kopf in höchster Spannung dem Schirm des Notebooks entgegengestreckt, als könne er damit näher am Geschehen sein. Ellen hatte ihn einmal in dieser Haltung ertappt und gesagt, er sehe aus wie eine Schildkröte auf Brautschau.
Unvermittelt, schrieb Ira, habe die Fremde im Zugabteil den wattierten Umschlag, den sie eine Weile in den Händen gehalten habe, aufgerissen – ratsch – das Geräusch habe ihre, Iras, ganze Aufmerksamkeit auf den Umschlag gelenkt. Eine der schönen schlanken Hände der Fremden sei nun in den Umschlag hineingefahren. »Sie ist so ungeduldig wie ich«, habe Ira noch gedacht, und dann sei ihr schwindelig geworden: »Sie zieht zwei Bücher von dir raus!!!« schrieb Ira. Sie, Ira, habe sich auf einen verdammten Japanerkoffer setzen müssen, so weich seien ihre Beine geworden. Jetzt habe sie auch Viktors Schrift auf dem Umschlag bemerkt…
Viktor wurde es beim Lesen dieser Zeilen seinerseits schwindelig, und seine Wahrnehmungskraft geriet durcheinander. Er hatte das Gefühl, schon die ganze Zeit insgeheim den Verdacht gehabt zu haben, daß Ira hier niemand anderen als die Prinzessin Aza beschrieb, die offenbar nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Zug nach London unterwegs war. Wer sonst sollte solche rabenschwarze Haare haben? Darüber hinaus hatte er rückblikkend das Gefühl, daß Aza ihn von Anfang an an Ira erinnert hatte, daß er überhaupt nur wegen dieser Ähnlichkeit auf sie aufmerksam geworden war. Es war ja nicht nur die rabenschwarz glänzende Haarpracht und der dunkle, reine Teint, es war der Mund mit seinen lüsternen Lippen, und vor allem waren es die Wangen, die ihn an Ira erinnert haben mußten. Die Bilder von Aza und Ira legten sich nun in Viktors Vorstellung übereinander, und fast wären sie zu einer Person verschmolzen, wenn Ira nicht andere Augen gehabt hätte, nämlich grünlich-bernsteinfarbene.
Viktor kroch mit seinen eher matten Augen noch näher an den Bildschirm heran, um den Rest der phantastischen Erzählung Wort für Wort in sich aufzunehmen: »Jetzt reißt’s mich endgültig«, stand da mit Flüchtigkeitsfehlern ungeduldig von Ira hingetippt, »sekundenschnell schießt eine Menge durch meinen Kopf. Es muß eine noch relativ neue Eroberung von dir sein, sonst hätte sie das alte Buch schon. Wer ist sie? Was ist das für eine Frau? Sie schaut genauso verträumt wie ich nach dem Öffnen deiner Päckchen. Wahnsinn! In einem völlig überfüllten Zug, mitten zwischen Hunderten von Menschen bleibe ich just da stehen? Du hast einen guten Geschmack, muß ich dir lassen. Um sofortige Aufklärung bittet Ira. P. S. Das Ganze ist erst wenige Stunden her. Ich bin eben erst in Amsterdam angekommen. Klär mich sofort auf! Das bist du mir schuldig! Wehe, du bist nicht da! Ich bin die ganze Nacht auf und warte auf Antwort.«
Viktor konnte sich von dem Text nur schwer trennen. »Sie zieht zwei Bücher von dir raus… Wer ist sie? Was ist das für eine Frau?« Er hörte Iras Stimme, wie sie ihm in höchster Aufregung die Fragen ungeduldig
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