Der Liebessalat
zwölf begab sich Viktor kurz in sein Arbeitszimmer und schaute, ob eine E-Mail von Ira eingegangen war. War sie: »Ab 00:30 kannst du anrufen.«
Null Uhr dreißig. Viktor war hingerissen von der Zeitangabe. Absolut konspirative, agentinnenhafte Präzision. Null Uhr dreißig war es gleich. Er antwortete: »00:50, vorher geht es nicht.« Sofort kam es aus Amsterdam zurück: »Okay, kein Streß.«
Um null Uhr fünfzig, sprich zehn vor eins, saßen die Gäste noch immer da und hatten gerade nach weiterem Wein verlangt. »Liebe Leute«, sagte Viktor, »ich muß leider noch arbeiten. Ihr wart dermaßen anregend, daß ich mich zurückziehen und meine Eindrücke festhalten muß.« Joviales Zetern. Einer sagte: »Gestehe, daß du heimlich mit Prinzessin Aza telefonieren willst.«
Viktor verschwand in seinem Arbeitszimmer und wählte gierig Iras Nummer. Ira erzählte noch einmal alles, was sie tags zuvor geschrieben hatte. Er wollte es aus ihrem Mund hören. Sie sprach wie früher. »Hast du graue Haare?« fragte Viktor. »Mußt du dir schon selbst anschauen«, sagte sie. Um dreiviertel zwei, also ein Uhr fünfundvierzig in der Agentensprache, gingen die Gäste. Leise, um Viktors poetische Gedankenflüsse hinter der verschlossenen Arbeitszimmertür nicht zu stören. Viktor hätte es nicht gut gefunden, wenn Ellen gleich den Kopf in sein Zimmer gesteckt hätte, um ihn zu fragen, ob er weiterarbeite oder ins Bett komme. Es mußte nicht sein, daß sie ihn telefonieren sah. Zwar zählte auch ein nächtlicher Telefongespräch zur Arbeit, zwar telefonierte er durchaus ab und zu mitten in der Nacht mit Adrian, wenn er etwas über Musik wissen oder jemanden eine Liebesgeschichte erzählen wollte, um sie anschließend besser aufschreiben zu können, aber er hatte jetzt keinerlei Lust zu lügen. »Kann ich dich in einer halben Stunde wieder anrufen?« fragte er leise. Wie süß klang Iras »Okay«, das er früher nicht hatte ausstehen können.
Ellen war müde und dankbar, daß Viktor das Wohnzimmer von den Spuren des Gelages befreien wollte, und ging zu Bett. Es war für Viktor ein Gebot der Fairneß, die Spülmaschine einzuräumen und die Küche in Ordnung zu bringen, wenn er schon eine gute Stunde Gäste geschwänzt hatte.
Um zwei Uhr dreißig, also um halb drei, rief er wieder bei Ira an. Sie redeten die ganze restliche Nacht bis morgens um acht. Viktor erzählte mehrmals, wie ihm zumute war, als er ihre Zeilen gelesen hatte, und Ira erzählte mehrmals, wie es war, als sie die fremde Frau beobachtet und sich in ihr entdeckt hatte. Es war klar, daß sie sich das möglichst bald von Angesicht zu Angesicht weitere Male erzählen mußten.
Das Festlegen einer Besuchszeit war nicht unkompliziert. Viktor war froh, daß auch für Ira ein offenes Treffen nicht denkbar war. Der ominöse Lover, über den sie, auch hierin ganz Agentin, keine näheren Angaben machte, sollte nichts wissen. Das war Viktor sehr recht. Er wäre ungern allein gewesen mit seiner Geheimhaltung. So schön die Geschichte auch war, er konnte sie Ellen nicht erzählen. Er würde nicht den Fehler wiederholen, den er in seiner ersten Ehe mit Ella gemacht hatte. »Erzähl doch einfach frank und frei, was los ist«, hatte Ella munter gesagt. Er hatte damals ihrer wohlmeinenden Aufforderung geglaubt und war in die Falle getappt. Das Frank-und-Freie hatte sich als das Zerstörerische schlechthin erwiesen. Nicht nur die unvermeidlichen Liebschaften gingen kaputt, wenn man frank und frei war, sondern auch die Ehen. Als Viktor und Ellen sich in einem spießigen Frankfurter Standesbeamtenbüro das Jawort gaben und die groteske Zeremonie von ein paar Freunden fotografiert wurde, hatte er die unvermeidlichen Trauzeugen gebeten, sich ein Pappschild mit der Aufschrift »Nie wieder frank und frei« um den Hals zu hängen.
Viktor erfand ein Treffen in Amsterdam. Ein dortiger Verlag interessierte sich für einen seiner Romane. Da er ungern log, war es ihm gelungen, bei einem Verlag tatsächlich ein Interesse zu wecken. Darin sah er sofort ein Zeichen, daß die Götter auf seiner Seite waren, was die Wiederaufnahme des Kontakts mit Ira betraf. Klar, anständige Götter waren für Versöhnung. Wenn man im Jenseits seine Exfrauen wiedertraf, war es besser, wenn man schon auf Erden Seelenfrieden mit ihnen geschlossen hatte. Das Problem war nur Ellen. Viktor hatte nicht gewußt, daß Amsterdam ganz oben auf der Liste von Ellens unbedingt zu besuchenden Wunschstädten stand. Sie war sogar
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