Der Liebessalat
längeren Brief zu lesen, den seine einstige große heimliche Liebe, dann zweite, schon seit Jahren geschiedene Ehefrau Ira ihm je geschrieben und erst vor etwa einer halben Stunde an ihn abgeschickt hatte.
Sie sei in Frankfurt gewesen, schrieb sie, wo nach wie vor ihr erster Mann mit zweien ihrer Kinder lebte. Viel Streß, viel Hektik. Der Zug Richtung Amsterdam sei rasend voll gewesen. »Du hättest bestimmt gleich eine Glosse über überfüllte Züge geschrieben«, schrieb sie, und Viktor lächelte gerührt, als er das las. Alles voller häßlicher Menschen mit Milchgesichtern, ein Schieben und Drücken, man müsse sich noch dünner machen, um Dickere vorbei zu lassen – widerlich. Und das nach einem unerfreulichen Tag mit dem störrischen Vater ihrer Kinder. Viktor war voller Anteilnahme und fragte sich, was in Ira, die nie sonderlich mitteilsam gewesen war, gefahren sein mochte, daß sie ihm, Viktor, ihrem zweiten Ex-Ehemann, von dem sie seit Jahren geschieden war und der ihr danach mit manchen Nachstellungen noch eine Weile die Ruhe geraubt hatte, einen derart ausführlichen Erlebnisbericht zukommen ließ.
Schließlich habe sie im Gang notdürftig zwischen den riesigen Koffern winziger, aufgeregter Japaner einen Stehplatz gefunden, neben einem Abteil, in dem sechs Leute mit ihren Hintern auf vermutlich reservierten Plätzen saßen. »Ein Reservat, eine geordnete Oase der Ruhe.« Warum hatte Ira früher ihre Beobachtungen nicht so hübsch formuliert?
Sie habe nichts anderes tun können, als mißgünstig und abgehetzt und schlecht gelaunt in das Oasen-Abteil zu starren. Eine hübsche jüngere Frau sei ihr aufgefallen, deren Haare sie an ihre Haare von früher erinnert hätten. »Weißt du noch, damals, meine langen Haare!« Viktor wußte noch und war gerührt. Später hatte sich Ira die Haare kurz schneiden lassen, der übliche Emanzipationsakt, er hatte erst gebrüllt vor Schmerz über den Verlust der dunklen Fülle, dann aber hatte er den neuen schwarzen Strubbelkopf bald angenehm unvertraut und daher besonders aufregend gefunden.
»Das Verdrehte war«, schrieb Ira, »ich habe die Fremde auf einmal mit deinen Augen gesehen, ich habe mir vorgestellt, wie sie dir gefallen würde. Und plötzlich hat sie mich am mich selbst von früher erinnert, auch wenn ich nicht ein ganz so stolzes Profil habe, und auf einmal wußte ich, wie dir zumute war, als du mich damals geliebt hast.«
Viktor starrte auf den Bildschirm und kostete jedes Wort von Iras Reisebericht. Endlich hatte seine zweite Ehefrau, die seine Liebe immer angezweifelt hatte, mit zehn Jahren Verspätung begriffen, daß es bei ihm wirklich Liebe gewesen war. Das war damals strittig gewesen. Ira hatte schon vor ihrer Ehe steif und fest behauptet, daß er allenfalls das Bild von ihr liebe, nicht aber sie selbst. Er hatte darauf erwidert: »Allerdings liebe ich das Bild, das ich von dir habe, aber ich nehme mir die Freiheit, die Frau dahinter auch zu lieben, du ungläubige Schlampe.«
Jetzt wurde es Viktor weich und warm – und er las weiter. Nicht allein in den rabenschwarzen langen Haaren habe sie sich von früher wiedererkannt, schrieb Ira, sondern auch in der Unruhe, mit der diese fremde Frau diverse Zeitungen öffnete und ungelesen wieder zusammenlegte. Sie habe an ihre damalige Unentschlossenheit denken müssen. Waren es zehn oder fünfzehn Jahre her, daß sie so aussah, habe sie sich gefragt.
Viktor konnte sich Ira mit auch nur einem einzigen grauen Haar nicht vorstellen. Wie unverwandt sie die Fremde von ihrem eingekeilten Platz im Gang aus angestarrt habe, schrieb sie, sei ihr klargeworden, als diese einmal hergesehen habe. Sie sei sich bei diesem Blick ertappt vorgekommen wie eine alte Gafferin, habe aber weiter wie gebannt beobachten müssen.
Die Fremde habe noch ein paar Mal die Zeitungen auf und zu gemacht und dabei lautlos und unzufrieden geseufzt. Mit einem Mal habe sie plötzlich nach oben in die Gepäckablage nach einem dicken brauen Umschlag gegriffen. Ira sieht die schlanken Hände der Fremden, die irgendwie unschlüssig den Umschlag halten und fragt sich, ob ihre Hände mit dreißig auch so schön waren, und es wird ihr weh ums Herz, obwohl ihre zweiundvierzigjährigen Hände auch nicht übel sind, und sie denkt an die Zeit mit Viktor. Und auch der wattierte dicke Umschlag, den die Fremde jetzt auf dem Schoß hält, erinnert sie an Viktor, allerdings nicht an damals, sondern an heute. Nichts Ungewöhnliches, so ein wattierter
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