Der Liebeswunsch
das jetzt seine letzte. Jeder mußte sich jetzt um sich selber kümmern,
sie auch. Sie hatte ja gewußt, daß sie ein großes Risiko einging, und sie hatte ihn immer tiefer hineingezogen. Aber schließlich
hatte sie ihn jetzt freigesprochen. Daran mußte er festhalten. Das war der Schlußpunkt, den er gebraucht hatte, auch wenn
er schwer zu verdauen war. Sie hatte ihn wahrscheinlich nur beleidigen wollen, weil er sie verletzt hatte. Und noch im Zimmer,
als er an ihr vorbeigegangen war, hatte er im Rücken ihr Schweigen wie einen Sog gespürt, als einen erstickten, zurückgehaltenen
Schrei, der ihm noch im Treppenhaus nachzuhallen schien, ihr Schrei: Er solle umkehren. Alles sei ein Irrtum. Sie liebe ihn.
– Doch die Vorstellung, alles würde mit Tränen und Küssen und verzweifelten Umarmungen wieder von vorne beginnen, trieb ihn
weiter. Erst auf der Straße fühlte er sich freier.
Zu Hause rief er Marlene in der Station an. Sie wurde von einer Schwester herbeigeholt, und er mußte eine Weile warten. Dann
meldete sie sich kurz: »Ja, was ist?«
»Ich wollte dir nur sagen, ich habe mit Anja Schluß gemacht. Den Mietvertrag des Apartments kündige ich gleich auch noch.«
»Dazu kann ich jetzt nichts sagen«, antwortete sie.
»Ich wollte nur, daß du es weißt. Entschuldige. Es tut mir leid.«
Es kam keine weitere Antwort, und er legte auf.
Alles, was er tat und sagte, war falsch. Er war an einem Punkt in seinem Leben angekommen, wo es nichts Richtiges mehr gab.
Wieder spürte er den Sog der phantastischen Erwartungen, vor denen er geflohen war. Jetzt konnte er nicht mehr zurück.
Sie stand mitten im Zimmer und biß sich auf die Lippen. Jetzt war er im zweiten Stock. Jetzt im ersten. Jetzt trat er auf
die Straße und entfernte sich. Sie hatte ihn nicht zurückgehalten, nicht hinter ihm hergeschrien. Alles war abgelaufen wie
ein Trick, plötzlich und ohne daß man es verstand. Sie blickte sich um. Muß noch das Zimmer aufräumen, dachte sie. Nichts
sollte hier zurückbleiben, was an sie erinnerte.
Das Seltsame war, daß sie keine Zukunft mehr hatte. Jetzt, da sie ging, kam es ihr vor, als ginge sie ständig auf eine dunkle
Wand zu, die Schritt für Schritt vor ihr zurückwich, immer gerade bis zum nächsten Augenblick. Es war ein traumloses Träumen
mit offenen Augen, das sich auch nicht wesentlich änderte, als sie im Auto nach Hause fuhr. Der Verkehr umgab sie und glitt
an ihr vorbei. Unversehens öffneten sich vor ihr Lücken und schlossen sich wieder. Sie blieb in der Spur und starrte mit vor
Müdigkeit schweren Augen auf die ab und zu aufleuchtenden Bremslichter des vor ihr fahrenden Wagens. Neben ihrer Beifahrertür
drehten sich bedrohlich nah die mächtigen schwarzen Reifen eines Lastzuges, rückten langsam vor und blieben wieder zurück.
War es denn möglich, daß alles vorbei war, wie weggeweht? Ja, natürlich, alles war vorbei. Sie konnte sich nicht einmal mehr
Pauls Gesicht vorstellen und sah ihn als eine steife Marionette an sich vorbeigehen und das Zimmer verlassen. Seltsam, wie
die Welt um sie herum weitermachte, als sei nichts geschehen.
Sie hatte das Gefühl, von einer weiten, verworrenen Reise in das Haus zurückzukehren, als sie leise die Haustür aufschloß und lauschte, ob sie etwas hörte. Es war wohl niemand da. Im großen Garderobenspiegel der Diele kam sie sich
lautlos entgegen, eine verwahrlost wirkende, verstörte Frau, die ihr erschreckend alt erschien.
Ich bin total fertig, dachte sie. Unbedingt mußte sie bald etwas essen und sich dann für zwei, drei Stunden hinlegen, bevor
Leonhard nach Hause kam.
Sie rief einen Pizza-Dienst an und bestellte einen Nudelauflauf.
»Pasta mista della casa?« fragte die Stimme.
»Ja, gut, bringen Sie mir das.«
Sie hatte kaum aufgelegt, als das Telefon wieder klingelte. Es meldete sich die aufgeregte Stimme ihrer Mutter.
»Da bist du endlich, Anja! Weißt du eigentlich, was du angerichtet hast? Leonhard hat mich eben vom Gericht aus angerufen
und gesagt, daß er sich von dir trennen will. Ich bin noch völlig fassungslos. Er sagte, daß du ihn monatelang mit Marlenes
Mann betrogen hast.«
»Das stimmt«, sagte sie. »Nur das Wort gefällt mir nicht. Betrogen habe ich mich selbst, als ich Leonhard geheiratet habe.
Viele Jahre habe ich mich betrogen. Ich hätte es ihm längst sagen müssen.«
»Ich verstehe dich nicht. Du hast es doch gut bei ihm gehabt. Er ist ein so nobler und
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