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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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großzügiger Mensch.«
    »Das mag ja alles sein«, sagte sie. »Aber das hat es nur schlimmer gemacht.«
    »Du bist wie dein Vater, Anja. Du erinnerst mich immer mehr an ihn.«
    Sie antwortete nicht. Ihr Herz schlug heftig und dumpf bis in die Ohren. Etwas Verborgenes zog sich in ihr zusammen – ein alter, nie überwundener Schmerz und die Erinnerung an frühe angstvolle Einsamkeit.
    »Das hat mir noch gefehlt, daß du mir das vorwirfst«, stieß sie hervor und legte auf.
    Zitternd vor Aufregung stand sie noch neben dem Telefon, als es wieder klingelte. Zögernd hob sie ab.
    »Entschuldige, Anja«, tönte die Stimme ihrer Mutter aus dem Hörer. »Es tut mir leid. Es ist mir so rausgerutscht, weil ich
     so durcheinander bin.«
    »Laß mich bitte mit Daniel sprechen«, sagte sie.
    »Er spielt gerade mit dem Nachbarjungen. Ich glaube, wir tun gut daran, ihn möglichst aus allem herauszuhalten. Das ist auch
     Leonhards Meinung.«
    »Ich will ihn trotzdem sprechen.«
    »Gut, ich sage es ihm.«
    Sie hörte die Stimme ihrer Mutter und Daniels helle Stimme im Hintergrund, konnte aber nichts verstehen. Nach einer Weile
     kam ihre Mutter zurück.
    »Er will nicht«, sagte sie. »Er kommt nicht ans Telefon.«
    »Hast du ihm freundlich gesagt, daß ich mit ihm sprechen möchte?«
    »Ja, natürlich.«
    »Ihr könnt mich alle mal«, sagte sie.
    »Anja«, sagte ihre Mutter, »Anja, komm zu dir. Du machst dich doch nur selbst kaputt. Bitte, wenn du heute abend mit Leonhard
     sprichst, dann denke daran, was auf dem Spiel steht. Vielleicht läßt sich alles wieder in Ordnung bringen.«
    »An deiner und seiner Ordnung habe ich kein Interesse«, sagte sie.
    »Dann mach doch, was du willst«, schrie ihre Mutter. »Dubist wirklich wie dein Vater. Du fällst immer auf die falschen Menschen rein.«
    Noch mit dem Nachhall der Stimme im Ohr hörte sie das Besetztzeichen. Etwas stimmte an diesen Vorwürfen, etwas, das nicht
     zu ändern war. Ihr Leben war ein Fehlschlag. Das scheinbar Richtige hatte sich immer als falsch erwiesen. Die Müdigkeit brannte
     in ihren Augen, und sie fühlte sich, als ob sie leichtes Fieber hätte – schweißig und fröstelnd, mit dumpfem Kopf. Der ganze
     Wirrwarr der letzten Tage hatte sich in diesen Zustand verwandelt. Gut, sie war damit einverstanden. Vielleicht schützte es
     sie ein wenig, wenn Leonhard nach Hause kam. Auf alle Fälle mußte sie sich vorher noch die verklebten, strähnigen Haare waschen.
    Sie war auf dem Weg nach oben, als der Bote vom Pizza-Dienst klingelte. Es war ein junger Mann, aber kein Italiener, der ihr
     die in Alufolie verpackte Pasta mista mitsamt einem gelben Faltblatt reichte, das über das erweiterte Firmenangebot und die
     neuen Preise informierte. Sie zahlte und ging mit dem Päckchen in die Küche und aß den zerkochten lauwarmen Pamp aus mit Tomaten-
     und Bechamelsauce durchweichten Nudeln direkt aus der Plastikschale und trank mehrere Gläser Mineralwasser dazu. Die zusammengeschobenen
     Reste kratzte und kippte sie in die Toilette.
    Danach ging sie nach oben in ihr Zimmer, um sich eine Weile hinzulegen, sah aber schon von der Tür aus auf dem Schreibtisch
     den weißen Umschlag mit Leonhards großer herrischer Schrift. Es ist wohl nötig, daß ich das lese, bevor er kommt, sagte sie
     sich. Auch wenn sich herausstellte, daß es vorteilhaft für sie gewesen wäre, den Brief noch nicht gelesen zu haben. Das konnte
     sie dann noch immer vorgeben,denn der Umschlag war nicht zugeklebt. Sie setzte sich damit auf ihr Bett.
    Es war ein kurzer handgeschriebener Brief, der ohne Anrede begann:
    »Nimm zur Kenntnis, daß ich weiß, wie systematisch Du mich seit längerer Zeit mit Paul hintergangen hast. Ich will hier nicht
     weiter darüber reden, schon gar nicht über ihn, der sich als mein Freund ausgegeben hat und der sich mir als ein Mensch gezeigt
     hat, den ich so schnell wie möglich aus meinem Gedächtnis tilgen will. Was uns angeht – so will ich nicht über Schuld reden.
     Auch ich habe vermutlich meinen Teil zu unserem Desaster beigetragen. Wir können jetzt nur noch so schnell wie möglich die
     nötigen Konsequenzen ziehen. Ich werde die Scheidung einreichen. Ehe es soweit ist, wird einige Zeit vergehen, die wir in
     beiderseitigem Interesse und auch im Interesse von Daniel nicht mehr im selben Haus verbringen sollten. Ich schlage vor, Du
     ziehst vorübergehend mit dem Nötigsten in eine Pension und suchst Dir eine eigene Wohnung. Ich werde Dir ein Übergangsgeld
    

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