Der Liebeswunsch
besuchen wollte. Aber an seiner Großmutter hängt
er sehr.«
»Und wie klappt es zwischen dir und Daniel?«
»Besser. Seit Anja aus dem Haus ist, hat sich der Junge erholt und ist ruhiger geworden. Das macht es einfacher, auch für
mich.«
»Du kannst ihr nicht das Recht absprechen, ihn zu sehen. Obwohl es vielleicht für Daniel besser wäre.«
»Nein, das kann ich nicht. Es sei denn, sie dreht durch.«
»Was du ja gerade verhindern möchtest, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
»Ja, natürlich hast du mich richtig verstanden.«
»Verstehst du noch, weshalb du sie geheiratet hast?« »Eigentlich nicht. Aber ich habe auch keine Lust, darüber nachzudenken.«
»Sag mir, was ich tun soll.«
»In welcher Hinsicht?«
»Überhaupt.«
»Keine unbeantwortbaren Fragen stellen und etwas Überschaubares tun.«
»Ja, ich glaube, das ist es. – Liest du immer noch die Stoiker?«
»Fast jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Sätze.«
»Ich glaube, das werde ich auch mal tun.«
Sie kamen aus dem jungen Fichtenwald heraus, und vor ihnen lag der alte Windbruch, eine weite ebene Fläche, auf der vor etlichen
Jahren ein Sturm über die Hälfte der Bäume geknickt hatte. Es hatte ausgesehen wie ein Kriegsschauplatz. Die Forstarbeiter
hatten trotz ihrer Motorsägen und der mit mächtigen Greifern ausgerüsteten Transportfahrzeuge mehr als ein Jahr gebraucht,
um das Areal aufzuräumen. Einige alte Kiefern waren stehengeblieben. Darunter hatte sich, wahrscheinlich durch Samenflug,
eine Wildnis aus Sträuchern ausgebreitet, die inzwischen beinahe mannshoch waren. Es war ihr Lieblingsplatz im Wald. Leonhard
schien wenig Sinn für das wilde, artenreiche Gestrüpp zu haben. Doch er war sofort fasziniert, als sie ihn auf die wimmelnde
Ameisenstraße am Wegrand aufmerksam machte und sie kurz danach vor dem großen, aus trockenen Fichtennadeln, Erde und anderen
unerkennbaren Materialien aufgeschichteten Bau standen, auf dem die kleinen rotbraunen Tiere eilig herumliefen und einander mit ruckartigen Bewegungen
aus dem Weg gingen, wenn sie sich begegneten, worauf jedes Tier in unbeirrter Eile und Zielstrebigkeit weiterlief. Es war
kaum möglich, den Weg einer einzelnen Ameise lange zu verfolgen, weil sie alle gleich aussahen. Als sie vor zwei Jahren zum
letzten Mal hier gewesen war, hatte alles genauso ausgesehen. Es waren inzwischen längst andere Tiere und schienen doch immer
dieselben zu sein. Ihre seltsamen, zwischen Kopf, Brustringen und Hinterleib tief eingekerbten Körper, ausgestattet mit drei
Beinpaaren, Fühlern und Beißzange, waren einander in Größe, Energie und Fähigkeiten völlig gleich.
»Die haben andere Probleme als wir«, sagte sie.
»Im Grunde haben sie dasselbe Problem«, sagte Leonhard, »sie sorgen dafür, daß das Leben weitergeht.«
»Du meinst, sie haben für dasselbe Problem nur andere Lösungen?«
»Ja. Aber sie haben keine andere Lösung. Sie sind die andere Lösung. Sie haben nämlich keine Wahl. Alles ist so, wie es immer
ist.«
»Wer keine Wahl hat, kann sich auch nicht irren.«
»Irren vielleicht schon, aber zweifeln nicht.«
Sie schaute längere Zeit zu, dann sagte sie: »Es sieht für mich wie eine Panik aus.«
»Wer weiß, wie wir aussehen«, sagte Leonhard.
»Vielleicht viel bizarrer und monströser?«
»Anmaßend und unangemessen, nehme ich an.«
Sie blieben noch eine Weile stehen, bevor sie beide, anscheinend aus dem gleichen unbewußten Impuls, weitergingen. Das Gespräch
wandte sich sachlichen Themen zu.
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16
Marlenes Erzählung 3
Noch bin ich in meinem Haus. Die Möbel, die ich behalten will, stehen schon in meiner neuen Wohnung. Einige alte Stücke, wie
den großen Danziger Schrank, der viel zu mächtig ist für die neuen Räume, aber auch eine der drei alten Kommoden, die ich
geerbt habe, die englische Vitrine und den schweren, dunkel gebeizten Eichenschreibtisch meines Großvaters habe ich an einen
Antiquitätenhändler verkauft. Auch die vier Landschaftsgemälde aus der alten Düsseldorfer Schule, die ich nie mochte und die
in der neuen Wohnung völlig unpassend gewesen wären, hat er für einen akzeptablen Preis genommen. Bei den Gemälden fiel mir
der Abschied leicht, bei den Möbeln weniger. Die Bilder dunkelten an den Wänden, aber die Möbel, vor allem der alte Schrank,
waren für mich stumme Lebensgefährten, zwischen denen ich aufgewachsen bin. Ich habe es als Verrat empfunden, daß ich sie
verkauft
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