Der Liebeswunsch
habe.
Doch inzwischen überwiegen Erleichterung und Neugier. Ich werde ein neues Blatt aufschlagen in meinem Leben. Wenn alle Zimmer
ausgeräumt sind, werden auch noch Dachstuhl und Keller entrümpelt. Und dann kommen die Handwerker in das ausgeweidete Haus,
um es von Grund auf zu erneuern. Das Parkett wird abgespänt, Türen und Fensterrahmen und Wände und Decken werden gestrichen,
und ich glaube, daß auch die eine oder andere Wand herausgerissen oder versetzt wird, entsprechend den Bedürfnissen der Anwaltssozietät, die Haus und Garten gekauft hat.
Es hat über ein Jahr gedauert, einen Käufer zu finden, weil Haus und Garten unter Denkmalschutz stehen wie viele Anwesen in
diesem Villenviertel. Überall, wo es solche Auflagen nicht gibt, sind inzwischen die Grundstücke gewinnträchtig mit mehrstöckigen
Häusern bebaut worden. Das geht seit zwanzig Jahren so, weil die alten Eigentümer nach und nach sterben oder wie ich keine
sinnvolle Verwendung für die großen Villen haben. Die Gesellschaft ist dabei, sich in kleine Gruppen und Einzelpersonen aufzulösen,
die zwei oder drei Zimmer mit Küche und Bad und einen Balkon brauchen, so wie ich es künftig haben werde und wie Paul es schon
fast ein Jahr lang hat. Aber seine Wohnung, die in einem großen Rodenkirchener Wohnkomplex liegt, habe ich nicht gesehen.
Alle sind wir jetzt auseinandergesprengt, nachdem wir etliche Jahre in der Vorstellung gelebt haben, Freunde fürs Leben zu
sein. Muß ich mir jetzt sagen, daß dies vor allem meine Phantasie gewesen ist und ich die anderen dazu gedrängt habe, in dieser
Inszenierung eine Rolle zu übernehmen? Oder war es vielmehr so, daß jeder von uns Halt in dieser zufällig entstandenen Ordnung
gesucht hat?
Vor drei Tagen habe ich Anja, die die Kontrolle über sich verloren hatte und nahe am Ende war, zur Entziehung in eine Klinik
gebracht. Dort hat man sie erst einmal ruhiggestellt, um sie dann langsam wieder aufzubauen. Wie, weiß ich nicht, denn ich
zweifle daran, daß Anja leben will. Sie hat ihren Versuch gemacht und ist gescheitert. Jetzt habe ich sie, in Übereinstimmung
mit Leonhard, den Spezialistenübergeben. Ich hatte aber kein gutes Gefühl dabei. Leonhard hat seine Schwiegermutter ins Haus geholt, damit immer jemand
für Daniel da ist. Vermutlich haben sich Leonhards Repräsentationspflichten vermehrt, denn er ist vom Justizminister auf Vorschlag
einer Richterkommission zum Präsidenten des Oberlandesgerichtes berufen worden. Er ist also fast ganz oben angelangt. Es freut
mich sehr, denn es ist der Platz, auf den er hingehört, auf Grund seiner herausragenden Intelligenz. Er ist ein theoretischer
Kopf und kann glänzend formulieren. Manche seiner Urteilsbegründungen sind inzwischen exemplarisch geworden. Vorige Woche
wurde im großen Saal der Flora mit vielen Reden und üppigem Buffet seine Ernennung gefeiert. Es waren über dreihundert Leute
da. Auch Anja ist überraschend dort aufgetaucht. Es war nicht klar, was sie wollte. Sie hat sich jedenfalls gleich betrunken,
wie sie es immer gemacht hat, wenn sie einer Situation nicht gewachsen war. Es drohte ein Skandal, und für Leonhard war es
ein Schock. Ich konnte ihm nur helfen, indem ich sie wegbrachte. Man konnte es wohl noch so deuten, als habe Anja ein Kreislaufproblem.
Manchmal telefoniere ich mit Leonhard. Doch wenn einer von uns das Bedürfnis hat, mit dem anderen zu reden, hört man gewöhnlich
nur seine Stimme auf dem Anrufbeantworter und muß das, was man sagen möchte, auf eine kurze Formel bringen. Oft habe ich dann
keine Lust mehr zu sprechen. Von Paul habe ich seit unserer Trennung vor gut einem Jahr nichts mehr gehört. Über ihn allerdings
das eine oder andere. So zum Beispiel, daß er jetzt mit Sibylle zusammen sei. Das hätte er mir eigentlich sagen können. Es
wäre ein Zeichen fortgesetzten Vertrauens gewesen, und ich hätte es dann nicht durch fremde Zuflüsterungen hörenmüssen, die für mich stets etwas Indiskretes haben. Immer noch setze ich anscheinend voraus, daß zwischen Paul und mir ein
näheres Verhältnis besteht, das andere Leute davon abhalten müßte, hinter dem Rücken von Paul mit mir über ihn zu reden. Kann
es sein, daß ich einfach nicht wahrhaben will, wie einschneidend und kränkend für ihn unsere Trennung gewesen ist? Ohne es
zu wollen, erwecke ich offensichtlich den Eindruck, daß diese kleinen Mitteilungen über Paul und sein Leben mich weiterhin
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