Der Liebeswunsch
sagte sie. Schon halb im Weggehen, drehte sich Frau Münchmeyer noch einmal um:
»Aber hören Sie: Es hat mich gefreut. Ich habe mich durch Sie an so vieles erinnert gefühlt.«
Sie blieb aufgestört zurück, nicht sicher, ob sie sich richtig verhalten hatte. Hatte sie zu viel von sich und Leonhard preisgegeben?
Und warum hatte die alte Dame das Loblied ihrer eigenen Ehe gesungen? Hatte sie ihr damit etwas nahelegen wollen, oder waren
es nur die verklärten Erinnerungen einer Witwe? Sie hätte gerne länger mit ihr gesprochen, um ihre Meinungen über das Leben
zu erfahren. Sie wußte aber nicht, welche Antwort ihr am liebsten gewesen wäre. War esdie Antwort: Man muß Glück haben? Oder die andere: Man muß sich sein Glück verdienen? Das konnte wahrscheinlich niemand entscheiden,
weil es sich mal so und mal so verhielt.
Sie sah Frau Münchmeyer im Haus verschwinden, und es kam ihr so vor, als nehme sie mit den Fragen auch alle Antworten mit.
Es war schön hier. Der blühende Garten umgab sie, die Zitronenbäume, das dunkelgrüne Laub der Lorbeerbüsche, hinter dem in
Ausschnitten die ockerfarbene Hauswand und die verhangenen Fenster des Erdgeschosses zu sehen waren. Die braun-gelb gestreifte
Katze des Nachbarn strich durch die Büsche auf der Jagd nach Eidechsen oder Vögeln. Tauben gurrten, Vögel zwitscherten. Und
die warme, kaum bewegte Luft hüllte sie ein und ließ sie schläfrig werden. Irgendwo auf den Anhöhen hinter dem anderen Ufer
des Arno stand ihr Mann und blickte über die Stadt. Sie wußte nicht, was es für ihn bedeutete. Doch das war ihr Fehler. Sie
mußte diesen Fehler korrigieren, um später, wenn sie eine alte Frau war, sagen zu können: Alles war richtig. Meine Ehe war
gut. Sie wollte auf jeden Fall dieses Ziel erreichen. Sie würde es erreichen, wenn sie es wirklich wollte.
Jemand hob sie auf und trug sie fort. Es war das Glücksgefühl, das sie manchmal überkam. Ein Taumel, ein Trubel und das Getragenwerden.
Sie fühlte sich benommen, als sie wach wurde und sich im Liegestuhl vorfand. Sie mußte über eine Stunde geschlafen haben.
Schwindelig stand sie auf und ging ins Haus, um zu duschen und ein anderes Kleid anzuziehen. Noch immer war sie wie abwesend
und setzte sich in den Sessel. Der größere Teil des Tages war hinter einem Graben der Bewußtlosigkeit verschwunden und nur noch blaß in ihrer Vorstellung. Hier bin ich, dachte sie. Manchmal mußte sie sich das sagen,
vor allem jetzt, auf dieser Reise.
Als sie nach unten ging, war Leonhard gerade zurückgekommen. Er stand mit Frau Münchmeyer in der Diele, und beide blickten
zu ihr herauf. Etwas klickte in ihr, und sie ging wie aufgezogen auf ihn zu, umarmte ihn und gab ihm einen Kuß.
»Da bist du ja schon«, sagte sie.
Er fühlte sich sperrig an, war anscheinend überrascht.
»Wir sehen uns sicher noch am Abend«, sagte Frau Münchmeyer und ging in die Küche.
Sie stand noch an Leonhard gelehnt und schaute ihr nach. In ihr war es taub und dunkel, als sie ihn küßte, und ihm schien
es ähnlich ergangen zu sein.
»Komm«, sagte sie, »wir machen noch einen kleinen Spaziergang.«
»Kannst du es denn wieder?« fragte er.
»Ja, ich hänge mich bei dir ein. Wie war’s denn? Was hast du erlebt? Konntest du von da oben über die Stadt blicken?« Sein
Arm fühlte sich noch hölzern an, als sie aus dem Haus traten und sie an der Mauer des Nachbargrundstücks entlanggingen.
»Ja, über die ganze Stadt«, sagte er. »Und du? Was hast du gemacht?«
»Nichts. Ich habe gefaulenzt, und Frau Münchmeyer hat mir eine Zeitlang Gesellschaft geleistet. Sie ist eine sehr nette Frau.«
»Ja, das ist sie«, sagte er.
Ihre Unterhaltung versiegte, während sie langsam weitergingen auf dem leicht abschüssigen Weg und sie sich fest aufseinen Arm stützte. Sie spürte seine Steifheit. Das Schweigen war zwischen ihnen wie eine Wand.
Ich glaube, ich bin undurchschaubar für ihn, dachte sie.
Vier Tage später fuhren sie nach Rom. Sie wohnten in einem Hotel, von dessen Dachterrasse man einen unverstellten Blick über
das Forum romanum hatte. Dort aßen sie oft zu Abend, obwohl es, wie sie mitbekam, im Vergleich zu den gewöhnlichen Trattorien,
wo man auch gut essen konnte, sehr teuer war. Aber Leonhard schätzte die vornehme Szenerie und den Ausblick auf die über zweitausendjährige
Ruinenstätte, denn er hatte sich wohl vorgenommen, die Tage in Rom zu einem unvergeßlichen Erlebnis für sie beide zu
Weitere Kostenlose Bücher