Der Liebeswunsch
wild.«
»Ich wollte dich irgendwie herausfordern, weil du immer so ruhig und überlegen bist. Das war dumm und hysterisch. Du hast
ja das Recht, so zu sein, wie du bist.«
Er streckte seine Hand aus, um ihre Hand zu fassen.
»Wir schaffen das schon, Schatz.«
»Ja«, sagte sie dankbar. »Du mußt Geduld mit mir haben.«
Dann ließ er ihre Hand los, um einen Schluck zu trinken. Traurigkeit überkam sie, ein Schwall innerlicher Dunkelheit, der
sie überschwemmte und zwang, den Blick zu senken. Nur nicht weinen, dachte sie. Wie gerufen erschienen die Kellner und servierten
das Hauptgericht.
Eine Weile aßen sie schweigend. Dann fragte er wie beiläufig, ohne sein Essen zu unterbrechen: »Fehlt dir was?«
Erschrocken sagte sie: »Nein, wie kommst du darauf?«
»Weil du so abwesend bist.«
»Ich habe über alles mögliche nachgedacht. Es war nichts Wichtiges.«
»Was war es denn?«
»Eindrücke von unserer Reise, von Rom. Verschiedenes eben. Ich habe mich gefragt, ob dir die Reise gefallen hat.«
»Mir ja«, sagte er. »Und dir?«
»Für mich war es fast zuviel.«
Sie machte eine Pause, dann sagte sie: »Das Schönste war für mich die Kutschfahrt auf der Via Appia. Und unsere abendlichen
Spaziergänge auf dem Palatin.«
»Nicht auch der Garten in Florenz?«
»Doch auch der Garten.«
»Obwohl ich dich allein gelassen habe?«
»Das war nicht schlimm. Ich wußte ja, du kommst wieder.«
»Stimmt was nicht?« fragte Leonhard über den Tisch hinweg, der sie immer weiter auseinanderrückte.
»Ich glaube, ich bin betrunken«, sagte sie.
»Soll ich einen Kaffee bestellen?«
»Nein, bitte bezahl und bring mich ins Zimmer.«
»Gut, bleib ruhig sitzen. Ich mache das schnell.«
Sie hielt sich gerade in dem dunklen Wogen, das sie umhüllte. Nahe dabei, aber in einer anderen Welt, sah sie Leonhard mit
dem Ober sprechen und mehrere Geldscheine auf einen weißen Teller unter eine Serviette schieben. Dann war er neben ihr und
faßte ihren Arm, führte sie an dem Monument des Obers vorbei und zwischen den Tischen hindurch, an denen sich einige Gesichter
mitdrehten. Mit dem Aufzug gelangten sie in ihr Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett legte. Ihr Blickfeld hatte sich verengt und
verschattet. Eingerahmt von einem kristallenen Rand stand Leonhard neben ihr und schaute auf sie herab. Hoffentlich muß ich
mich nicht übergeben, dachte sie, und wie auf das Stichwort wurde ihr schlecht, und sie spürte, daß ihr Magen sich wie ein
Pumpwerk zusammenkrampfte und in Schüben gegen ihre zugeschnürte Kehle drückte, die gleich aufbrechen mußte. Kalter Schweiß
trat ihr ins Gesicht, während sich die Übelkeit hochwölbte und ihr schwarz vor den Augen wurde. Sie kam gerade noch mit vor
den Mund gepreßter Hand ins Badezimmer, wo sie unter unwillkürlichen lauten Schreien alles, was sie gegessen und getrunken
hatte und was sonst noch in ihr war, in spritzenden Fontänen ins Klosettbecken erbrach.
Als sie nach einer Weile bleich und zittrig ins Zimmer zurückkam, in dem nur die Nachttischlampen brannten, saß Leonhard steif
aufgerichtet in einem der beiden Sessel und schaute ihr entgegen. Er wirkte geschockt, und sie dachte: Ich habe ihm wohl etwas
angetan, was er nicht so schnell verarbeiten kann.
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5
Marlenes Erzählung 1
Als wir damals von unserer Ostasienreise zurückkehrten und Anja, die unser Haus bewacht hatte, auszahlten und von ihr die
Schlüssel übernahmen, hat sie nicht gesagt, daß sie und Leonhard sich während unserer Abwesenheit kennengelernt hatten und
bald heiraten wollten. Sie überließ es ihm, uns alles zu erzählen. Schließlich war Leonhard unser Freund und sie für uns noch
eine Fremde.
Aber sie wirkte bei unserer Rückkehr lebhafter als am Tag ihrer Vorstellung, bei der sie einen stillen und zurückhaltenden
Eindruck machte. Wir fanden allerdings auch damals schon, daß sie einen eigenartigen, nicht leicht zu beschreibenden Charme
hatte. Man wußte nicht recht, ob sie eher einfach oder kompliziert war. Denn sie gab einem nicht zu verstehen, wie sie gesehen
werden wollte. In ihrer seltsamen Abwesenheit oder Zerstreutheit war sie gegenwärtiger als andere Menschen, die gewohnt waren,
sich selbst zu produzieren. Ihr Mangel an Selbstdarstellung war ungewöhnlich und vieldeutig. Man konnte ihn als Schutzlosigkeit
und Verborgenheit verstehen. Dazwischen blieb viel Raum für Phantasien.
Wir hatten sie gebeten, schon am Abend vor unserer Abreise bei uns
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