Der Liebeswunsch
Mal fiel ihr auf, daß ihm der Blazer ein wenig eng geworden war. Wenn er nicht achtgab, würde er in zehn
Jahren eine schwere voluminöse Erscheinung sein, und wahrscheinlich würde es nicht schlecht zu ihm passen. Schon jetzt hatten
seine Bewegungen etwas Gravitätisches. So wie er den Gerichtssaal betreten hatte, trat er auch auf die Hotelterrasse und zog
sofort die Aufmerksamkeit des Oberkellners auf sich, der sie zu ihrem reservierten Tisch führte. Wie immer begann das abendliche
Ritual mit einem Aperitif und dem Studieren der Karte. Es folgte ein Austausch mit dem Oberkellner, der mit einer Verbeugung
die Bestellung entgegennahm. Anschließend gingen sie gemeinsam mit ihren kleinen Tellern am Buffet vorbei und wählten die
Vorspeisen aus. Sie ging voran und wartete am Ende des Tisches auf Leonhard, der sich einiges mehr auf seinen Teller lud.
Essen war für ihn eine erstrangige Beschäftigung. Es war seine Art von Sinnlichkeit. Und er unterstellte einfach, daß sie,
seine Frau, diese Vorliebe teilte.
Als sie sich wieder gegenübersaßen, kam der Oberkellner mit einer von einer Serviette umwickelten Rotweinflasche an den Tisch
und enthüllte sie vor Leonhards Augen, um ihm das Etikett zu zeigen. Es sah aus, als teile er ihm in stummer Feierlichkeit
ein Geheimnis mit, das einen Moment lang Leonhards Aufmerksamkeit auf sich zog, dann goß er ihm, die Flasche fast am unteren
Ende haltend und mühelos beherrschend, eine kleine Probe ins Glas. Sie hatte sich von diesen rituellen Handreichungen abgewandt
und in den dunkel blauenden Abendhimmel geblickt, wo Mauersegler mit schrillen Schreien in rasendem kurvenreichen Flug Insekten
jagten, und beinahe hätte sie ihr volles Weinglas umgestoßen, als Leonhard ihr sein Glas entgegenhielt und »Aufdein Wohl« sagte. Sie tranken, setzten gleichzeitig die Gläser ab. Vorsichtig stellte sie ihr Glas ein wenig weiter von sich
fort. Es lag für sie etwas Zwanghaftes in diesen spiegelbildlichen Bewegungen des Zutrinkens, und sie hoffte, daß Leonhard
etwas sagen würde, was die Formelhaftigkeit auflöste, aber er wandte sich seinem Teller zu. Auch sie begann zu essen, pickte
unschlüssig mit der Gabel auf dem Teller herum. »Die Muscheln sind vorzüglich«, sagte Leonhard und zeigte mit der Gabelspitze
auf den kleinen Muschelhaufen auf seinem Teller. Sie nickte, sagte ja und dachte, daß sie es nicht aushalten könne, ein Leben
lang solche Sätze von ihm zu hören. Bevor sie weiteraß, nahm sie einen großen Schluck Rotwein. Wie gut wäre es, sich zu betrinken,
dachte sie, während sie wieder auf ihren Teller blickte. Da lagen lauter Delikatessen, kunstvoll vorbereitete Verwöhnungen.
Warum reizte es sie, daß er das betonte?
»Erzähl mir was aus deinem Leben«, sagte sie.
»Aus meinem Leben? Da mußt du schon genauer fragen.«
»Hast du vor mir eine andere Frau geliebt?«
»Das ist lange her. Und ich denke nicht, daß es Liebe war.«
»Was war es dann?«
»Ich weiß es nicht mehr. Und du?«
Sie sah ihn an – seinen steilen Kopf, seine blauen Augen, die sie mißtrauisch musterten, und sie spürte, wie ein nervöses
Kichern in ihre Kehle stieg.
»Ich auch nicht.«
»Was meinst du?«
»Ich weiß auch nichts mehr. Alles ist vergessen. Alle meine Liebhaber.«
Der mißtrauische Ausdruck seines Gesichtes verstärkte sich, während sie einen weiteren Schluck aus ihrem Glas nahm. Sie hielt
es noch in der Hand, als sie fragte: »Warst du schon mal betrunken?«
»Nicht richtig«, sagte er.
»Ich schon.«
Sie trank wieder und stellte das Glas, in dem nur noch ein Bodensatz war, neben ihren Teller.
»Ich finde, wir sollten uns mal zusammen betrinken. Heute abend zum Beispiel, zum Abschluß unserer Reise. Das würde mir Spaß
machen.«
»Mir nicht unbedingt«, sagte er.
Der Ober kam und schenkte ihr nach. Und Leonhard sagte an ihrer Stelle »Danke«, was wohl heißen sollte: Nicht ein weiteres
Mal. Der Ober verbeugte sich leicht und verschwand. Sie hatte ihren Kopf, der schwer geworden war, auf ihre Hand gestützt
und blickte auf die restlichen Vorspeisen auf ihrem Teller.
»Vergiß es«, sagte sie.
Ein jüngerer Kellner kam und nahm die Teller weg. Die Serviette auf ihrem Schoß hatte einen Rotweinfleck bekommen, aber das
neue Kostüm geschützt. Der Anblick ernüchterte sie, und sie fühlte sich schlecht.
»Entschuldige«, sagte sie, »ich habe mich blöd benommen.«
»Ach was«, lächelte er, »halb so
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