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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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eben sozialpflichtig.
    »Dann bist du ja wieder fein heraus«, antwortete ich. Und leider bringe es mir nichts, daß ich ihn durchschaute.
    »Doch doch, du hast die moralisch überlegene Position«, sagte er.
    Dieses ironische Geplänkel hat sich seit langem bei uns eingebürgert. Es ist fast unser normaler Umgangston. Da hat sich viel
     geändert seit damals in London, als jedes Wort, das wir sprachen, leidenschaftlicher Ernst war.
    Nun, ich wurde also die Managerin und Animateurin unseres Gesellschafts- und Kulturlebens. Am ehesten fand ich dabei noch
     Unterstützung bei Leonhard, der wegen Anja daran interessiert war, unsere gemeinsamen Unternehmungen fortzusetzen. In der
     Regel gingen wir einmal im Monat ins Theater oder ins Konzert oder sahen uns gemeinsam eine Ausstellung an. Und ebenfalls
     einmal im Monat trafen wir uns abwechselnd bei uns oder bei Leonhard und Anja zu unserem Jour fixe, dem sogenannten Romméabend.
     Er begann mit einem kleinen Abendessen, dann spielten wir einige Runden dieses simple Kartenspiel, bei dem man sich nebenbei
     noch locker unterhalten konnte, und manchmal, immer öfter sogar, unterhielten wir uns auch nur, behielten aber die Bezeichnung
     »Romméabend« bei, um zu betonen, daß wir an diesem Abend einem gemeinsamen Ritual folgten. Völlig neue Möglichkeiten boten
     sich uns schließlich, als Anjas Mutter aus wirtschaftlichen Gründen ihre Boutique aufgeben mußte. Jetzt konnten wir auch gemeinsameExkursionen und Kurzurlaube planen, denn Anjas Mutter war meistens bereit, einige Tage in Leonhards und Anjas Haus zu wohnen
     und auf Daniel aufzupassen. Wenn es sich dagegen nur um einen Abend handelte, konnte Anja meistens ihre Haushaltshilfe engagieren.
     Alles lief gut. Wir waren einstweilen im Gleichgewicht. Nachträglich muß ich mir allerdings eingestehen, daß ich nie richtig
     daran geglaubt habe.

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    6
Abgleitende Gedanken
    Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Vorhin habe ich eine Stunde lang aus dem Fenster gestarrt und nichts wahrgenommen. Irgendein
     Zauber hätte die Straße und die Häuser auf der anderen Seite verschwinden lassen können, es wäre mir nicht aufgefallen. Es
     waren auch keine Gedanken in meinem Kopf, keine, an die ich mich erinnere.
    Es ist still hier. Wenn ich mich konzentriere, höre ich Geräusche: ein fernes an- und abschwellendes Rauschen und irgendwo
     ein Poltern, Holz auf Holz, als würden Bretter aufgeladen. Vielleicht ist wieder eine Fassade gestrichen worden, und sie brechen
     das Gerüst ab.
    Ich erschrak gestern, als Marlene mich am Telefon fragte: »Was gibt es Neues bei dir, Anja?« Es gibt nichts Neues. Es kann
     nichts Neues geben. Ich wüßte nicht, was.
    Überall geschieht etwas und nichts geschieht. Daniel ist im Kinderhort. Ich habe den Frühstückstisch abgedeckt und gespült.
     Leonhard ist ins Gericht gefahren. Der Präsidialrat der Richter tagt, um über die Ernennungsliste des Justizministers zu diskutieren
     und eine Stellungnahme dazu abzugeben, eine geheime Sitzung, die Leonhard sehr wichtig nimmt. Er sagt, er müsse dem Minister
     Paroli bieten. Der Minister neige dazu, seine Ministerialbeamten auf die freien Stellen zu setzen. Es ginge um die Selbsterneuerung
     der freien Richterschaft und um einen politikfreien Raum. Ichweiß nicht, woher er die Kraft nimmt, an alles zu glauben, was er tut.
    Neulich abends hat er auf einmal alle seine Schuhe geputzt, erst die braunen, dann die schwarzen, zum Schluß die Wanderschuhe
     aus Wildleder, das er mit der Spezialbürste aufrauhte. Er wollte Radio dazu hören und putzte die Schuhe auf der Fensterbank
     in der Küche, wo das Transistorgerät gewöhnlich steht. Er hatte die Fensterbank mit alten Zeitungen abgedeckt und sich seine
     dunkelgrüne Gärtnerschürze umgebunden, um sich nicht schmutzig zu machen. Er hätte die Arbeit auch unserer Haushilfe überlassen
     können, die dreimal in der Woche für drei Stunden kommt und nicht immer genug zu tun findet. Aber sie macht es ihm nicht perfekt
     genug, weil sie zu viel Creme nimmt, die dann an den Aufschlägen seiner Hosen Schmutzkanten hinterlassen könnte. Wenn ich
     mich recht erinnere, ist das nur einmal vorgekommen. Er nahm das zum Vorwand, das Schuheputzen selbst in die Hand zu nehmen.
     Es ist in meinen Augen eine Demonstration seiner Auffassung, daß das Leben eine große Aufgabe ist, die sich aus vielen kleinen
     Aufgaben zusammensetzt, die alle die gleiche Aufmerksamkeit und Genauigkeit verdienen. Aber es

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