Der Liebeswunsch
damit zufrieden zu sein. Ihm ist etwas anderes wichtig im Leben. Er will
für einen bedeutenden Mann gehalten werden. Auch in moralischer Hinsicht sucht er Bewunderung. Er gilt als fortschrittlich,
als aufgeklärt. Einige seiner Urteile sind in die Fachliteratur eingegangen. Er scheut sich nicht vor Arbeit, nicht vor Ehrenämtern.
Er ist ein Mann, der mit seiner Rolle verwachsen ist. Doch vor allem liebe er sein Zuhause, und seine Familie sei ihm das
Höchste, hat er gesagt, als man ihn in der Zeitung nach seinem Leben und seinen Vorlieben befragte. Er wußte natürlich, daß
ich das Interview lesen würde. Es war eine indirekte, halboffizielle Mitteilung an mich, eine Verlautbarung.
Was ist mit mir? Warum habe ich Lust, ihm Unrecht zu tun? Warum bin ich so gereizt? Alle scheinen Leonhard anders zu sehen
als ich. Er hat Freunde, er ist ein geschätzter Mann.
Das strenge Gesicht meiner Mutter, das aufblüht, wenn sie Leonhard sieht. Ihre Fragen am Telefon: »Wie geht's Daniel, wie
geht's Leonhard? Grüß ihn bitte von mir. Sag ihm, er soll sich schonen. Sag ihm, ich hätte das gesagt. Und gib beiden einen
Kuß von mir.«
Ich habe den Mann geheiratet, der die Wahl meiner Mutter ist.
»Du hast das große Los gezogen, Anja.«
Immer wieder sagte sie es mir. Leonhard, ein guter Hausvater und Ehemann, bei dem Daniel und ich gut aufgehoben sind, ein
zuverlässiger, ordentlicher, allgemein geachteter Mann, so viel reifer, so viel erwachsener als ich.
Durch Leonhard lernte ich die Welt kennen. Wenn wir reisten, fuhren wir immer an Orte, die er von einer seiner früheren Reisen
kannte. Er führte mich überall herum, erklärte mir alles Wissenswerte. Ich sollte lernen, die Welt mit seinen Augen zu sehen.
Ich war für ihn ein leeres Gefäß, bereit, alles aufzunehmen, was er in mich hineinlegte. Von Anfang an gab ich ihm recht.
Ich war die Bedürftige, die Beschenkte. Ich hatte noch kein nennenswertes Leben gehabt.
Von überall schickten wir Ansichtskarten an meine Mutter, die sie alle aufbewahrte. Sie schrieb, sie könne sich alles so gut
vorstellen, als ob sie uns begleitet hätte.
»Du hast das große Los gezogen, Anja.«
Immer wieder sagte sie es mir, und ich antwortete: »Ja, das habe ich wohl.« Ich lebte mich immer mehr ein in diese Rolle einer
glücklichen jungen Frau und versuchte, alle davon zu überzeugen. Alle um mich herum sollten es bestätigen. Wenn mich jemand
beglückwünschte oder zum Schein beneidete, lächelte ich wie zur Entschuldigung: Ich wisse natürlich auch, daß Glück nicht
die Regel sei.
Ich glaubte nicht wirklich, was ich sagte, und versuchte, es mir deshalb immer wieder einzureden.
Wenn meine Mutter zu Besuch kommt, hat Leonhard sie vermutlich gerufen. Sie kommt, um mich zu entlasten, weil ich meine Pflichten
vernachlässige, depressiv oder neurasthenisch bin. Sie wird sagen: »Überlaß mir mal alles hier. Fahrt ruhig einmal zu zweit
weg. Ich glaube, das braucht ihr mal.« Ich kann nicht antworten, daß ich gerade das fürchte.Nein, ich kann nicht mehr Tage und Wochen mit ihm allein sein. Ich fürchte mein Verstummen, weil ich mein Geständnis fürchte.
Ich habe Angst, daß ich alles zerstöre, hoffe immer, daß ich mich wieder fange.
Ich weiß nicht wie.
Marlene hat neulich vorgeschlagen, wir sollten unsere Romméabende wieder aufnehmen. Ich bin überzeugt, daß Leonhard dahintersteckt.
Er macht sich Sorgen. Er ist ratlos. Sie haben über mich gesprochen. Ich wittere es. Überall mobilisiert er Nothelfer für
unsere Ehe. Er hat eine labile Frau geheiratet, die man unauffällig stützen muß, so sieht er es. Ich fühle mich von seinen
hilflosen Gedanken umgeben.
Alles ist jetzt falsch: sein aufmunternder Tonfall, sein Händereiben, sein Rundrücken, sein Geruch, sein häufiges Räuspern
und seufzendes Ausatmen, wenn er seine Akten liest. Er leidet, aber er weiß es nicht. Es ist in seinem Bild vom Leben nicht
vorgesehen. So höre ich ihn manchmal seufzen. Mein Abscheu ist stärker als mein Mitleid, und ich verurteile mich deswegen,
sage mir, daß er unschuldig ist. Doch vielleicht stimmt das nicht. Jeder hat das Leben, das er verdient. Nicht nur ich, auch
er. Wir haben das Leben, an das wir uns klammern und über das wir nicht sprechen können.
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7
Nach dem Romméabend
Am Abend vor meinem dreiunddreißigsten Geburtstag kamen Paul und Marlene zu Besuch. Es war unser üblicher Romméabend. Wir
trafen uns in den letzten
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